OER gelangt in den Mainstream des #digitaleBildung-Diskurses – ist das gut?

Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz

Das Plenum beim OERcamp 2012 in Bremen
OERcamp 2012 in Bremen (Standbild aus dem Video bei Vimeo), Lutz Berger für pb21.de, CC BY 3.0 DE.

Open Educational Resources (OER) – das war vor wenigen Jahren noch ein Nischenthema. Diese Nischen waren gesonderte Kreise, gesonderte Veranstaltungen, gesonderte Publikationen. Inzwischen ist das Thema aus den Nischen heraus und damit im Mainstream angekommen, stellt Jöran Muuß-Merholz in diesem Meinungsbeitrag fest – ist das ein Problem oder eine Chance?

OER als Nischenthema

Dieser Beitrag erscheint bei der Informationsstelle OER – OERinfo. Sie wurde 2016 ins Leben gerufen, um Informationen über OER zu verbreiten, zusammen mit 22 weiteren Projekten, die Multiplikator*innen zu OER informieren sollte. Es gab neben OERinfo auch OER-Konferenzen, OERcamps, OER-Workshops und OER-Publikationen. Auf politischer Ebene gab es eine Arbeitsgruppe, die das Thema OER voran trieb.

Diese Fixierung auf OER wurde solchen Orten und Aktivitäten bisweilen zum Vorwurf gemacht. OER müsse doch Thema verschiedener Konferenzen werden, Teil von allgemeineren Fortbildungen und Publikationen. Die politische Arbeitsgruppe zu OER wurde aufgelöst. Stattdessen sollte das Thema nun in Arbeitsgruppen mitgedacht werden, die sich allgemein mit Digitalisierung und Bildung beschäftigten.

OER als Mainstream-Thema

Ein UNESCO-Report zu OER in Deutschland stellte 2017 (auf Deutsch 2018, S. 85) fest:

„In den allgemeinen Bildungsdebatten darüber, wie wirksame Strategien und Verfahren für digitale Bildung sichergestellt werden sollten, entsteht ein Potenzial für die Unterstützung von OER. OER sind in diesem Rahmen gut verortet, doch ist es wichtig zu prüfen, ob ihr ganzes Potenzial in wichtigen Strategiepapieren reflektiert wird.“

Die Verlagerung des Diskurses um OER in die im Zitat angesprochenen „allgemeinen Bildungsdebatten“ kann 2020 an Beispielen beobachtet werden.

  • In Schulverlagen gab es in den letzten Jahren bereits erste Veröffentlichungen als OER. Zuletzt erschienen 2020 Bücher von Nele Hirsch und Monika Heusinger, die als „ganz normale Bücher“ gelten können – und mit freier Lizenz veröffentlicht wurden.
  • Bei Konferenzen ist eine gegenseitige Annäherung zu beobachten: Bei verschiedenen Konferenzen im Bildungsbereich finden sich Beiträge zu OER im Programm, während gleichzeitig die OER-Konferenzen ihren Fokus erweitern.
  • Das Projekt „Wir lernen online“ baut eine Suchmaschine für Online-Bildungsmaterialien und räumt OER dabei einen wichtigen Stellenwert ein.
  • Zahlreiche Einzelprojekte und Institutionen im Bildungsbereich machen die freie Lizenz zu ihren Materialien zum Standard.
  • Erste Länderprogramme, insbesondere im Bereich Hochschule, wollen OER zur Selbstverständlichkeit in der Lehre machen.
  • In Ausschreibungen (vor allem auf EU-Ebene) wird OER zur Auflage gemacht. (Ein möglicher Hebel, auf den Andreas Link mich schon vor vielen Jahren aufmerksam machte.)

Das Thema OER ist zweifellos nicht so stark im Mainstream verankert, dass es in Diskussionen und Handlungen selbstverständlich mitgedacht wird. Im Gegenteil – davon sind wir noch weit entfernt. Schaut man sich Megathemen wie Digitalisierung oder Inklusion an, dann hat es dort Jahrzehnte gedauert, bis wir heute von einem Mainstreaming sprechen können – und auch da bedeutet „… ist im Mainstream angekommen“ nicht, dass es tatsächlich immer und überall präsent wäre. Der Vergleich zeigt, wie breit „Mainstreaming“ verstanden werden kann.

Bei OER bedeutet Mainstreaming noch lange nicht, dass es zum Standard, zum „default“ von Lehr-Lern-Materialien geworden wäre. Mainstreaming meint für OER erst einmal: Das Thema wird nicht mehr so sehr als Sonderfall gesehen, dass es nur in gesonderten Zusammenhängen, an gesonderten Orten, von gesonderten Personenkreisen diskutiert wird. Das ist gut. Gleichzeitig fehlen in der Liste mit positiven Beispielen auch Dinge, die einfach nicht passiert sind. So ist beispielsweise in den politischen Diskussionen das Thema eher wieder eingeschlafen, nachdem die dezidierte Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingeschlafen ist. Und auch auf Ebene der Bundesregierung wurde zwar eine umfassende OER-Strategie versprochen – aber bisher nicht geliefert, mit der Folge, dass OER derzeit gar nicht auf der bundespolitischen Agenda steht.

Die OER-Perspektive an jeden Tisch bringen

Wenn das Thema OER stärker in die Breite gelangen soll, dann ist es notwendig, dass Diskussionen nicht nur unter OER-Spezialisten stattfinden. Vielmehr braucht es OER-Kompetenz und damit die OER-Perspektive an jedem Tisch, an dem Bildung und Bildungsmaterialien verhandelt werden. Plakativ formuliert: Im besten Fall sind alle Beteiligten in einem solchen Setting auch so OER-kompetent, dass sie diese Perspektive in ihr jeweiliges Thema einbringen können. Das wäre meine Definition von vollendetem Mainstreaming. Das ist eine Vision, vielleicht eher eine Utopie. Ein realistisches Ziel kann darin bestehen, dass in jeder Diskussion zumindest eine OER-kompetente Person am Tisch sitzt, die das Thema OER und das Thema des Tisches miteinander verweben kann.

In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.
In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.

Von dieser Vision sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Deswegen ist und bleibt es wichtig, dass mehr Menschen OER-Kompetenz entwickeln können – und das geschieht zu einem großen Anteil in OER-spezifischen Kreisen. Deswegen ist es nach wie vor wichtig, dass das Thema OER nicht nur Schritt für Schritt in den Mainstream gelangt, sondern weiterhin auch (!) in OER-Nischen diskutiert und vorangetrieben wird. Solange die OER-Perspektive noch nicht an jedem Tisch vertreten ist, braucht es Orte, die das Thema in den Mittelpunkt stellen und so weiterentwickeln.

Was denken Sie?

Soweit der Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz. Die Kommentare sind offen. Haben Sie Fragen? Weitere Punkte für die Aufzählung? Oder Widerspruch? Wir freuen uns über jeden Beitrag, der der Meinungsbildung dient!

Creative Commons LizenzvertragDieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz für OERinfo – Informationsstelle OER.

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