Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
OER ist ein Thema wie Krankenhäuser oder Straßenbau – man interessiert sich erst dafür, wenn etwas nicht mehr funktioniert. Die Coronakrise hat sichtbar gemacht, wie wichtig Infrastruktur-Fragen für das Bildungswesen sind. Die Art und Weise, wie wir Lehr-Lern-Materialien organisieren, ist kaputt, argumentiert Jöran Muuß-Merholz in seinem Meinungsbeitrag.
OER ist eine Infrastrukturfrage.
„Infrastruktur“ bezeichnet im Wortsinne den „Unterbau“ einer Gesellschaft. Wir denken dabei häufig zunächst an materielle Infrastruktur wie Straßen oder Krankenhäuser. Aber im weiteren Sinne kann man auch soziale Vereinbarungen wie z.B. die Verkehrsregeln oder die Krankenversicherung als Infrastruktur einer Gesellschaft verstehen. In diesem Sinne ist OER eine Frage der Infrastruktur des Bildungswesens. Denn dazu zählen nicht nur materielle Dinge wie Häuser oder Bücher, sondern auch Vereinbarungen, wie wir Häuser nutzen und wie wir Bücher bearbeiten und kopieren können.
Infrastruktur ist langweilig – bis sie kaputt ist.
Wenn man mit der Infrastruktur-Brille auf Lehr-Lern-Materialien (Educational Resources) blickt, wird deutlich: Offenheit, Standards, Urheberrecht, Lizenzen – also die Fragen rund um OER stellen sich für die meisten Menschen als eine langweilige Angelegenheit dar. Sie wollen sich nicht damit beschäftigen oder nehmen das Thema gar nicht als Thema wahr.
Das gilt allerdings nur, solange die Infrastruktur funktioniert. Sobald sie kaputt ist, nehmen wir sie sehr schnell wahr, beispielsweise bei Schlaglöchern in der Straße, Verspätungen bei Zügen, Streik im Kindergarten oder unfairen Steuerregelungen. So ist es auch im Bildungsbereich. Im Zuge der Digitalisierung bemerken immer mehr Menschen, dass unsere Infrastruktur in Bezug auf Lehr-Lern-Materialien kaputt ist. Einige Beispiele: Mangels offener Standards sind wir an bestimmte Geräte und Dienste gefesselt. Das Urheberrecht aus der analogen Zeit verhindert, dass wir digitale Materialien vernünftig verwenden, vervielfältigen, verändern und verbreiten können (meist können wir sie nicht mal in unserer eigenen Logik abspeichern). Die existierenden Nutzungslizenzen sorgen häufig für mehr Verwirrung als für Erleichterung. Und die grundsätzlichen Vorteile digitaler Materialien wie z.B. Kosteneinsparungen und Verfügbarkeit kommen kaum zur Geltung (oder werden sogar bestritten).
Infrastruktur ist nicht sexy, aber wichtig.
Die Coronakrise hat einen Digitalisierungsschub im Bildungsbereich ausgelöst. Dadurch wurde die Dysfunktionalität der vorhandenen Infrastruktur in Bezug auf Lehr-Lern-Materialien für viele Menschen sichtbar. Oder einfacher: Die Art und Weise, wie wir mit Lehr-Lern-Materialien arbeiten, ist kaputt. OER ist da kein Allheilmittel, aber es bietet an vielen Stellen Lösungen, Erleichterung oder auch nur eine Krücke.
Das Thema OER ist nicht sexy. Niemand interessiert sich für Straßenbau – bis die Straße kaputt ist. Bei Lehr-Lern-Materialien ist es soweit – die Straße ist kaputt. Damit ist das Thema immer noch nicht sexy. Aber es wird deutlich, wie wichtig die Fragen nach (offenen) Lehr-Lern-Materialien als Infrastruktur für unser Bildungswesen ist.
Deswegen ist auch die politische Diskussion (z.B. hier und hier), die derzeit um Plattformen und Finanzierungen für Lehr-Lern-Materialien geführt werden, von elementarer Bedeutung. „Elementar“ ist hier im Wortsinne gemeint: Es geht um das Fundament, um grundlegende Infrastruktur. Hier werden weichenstellende Entscheidungen getroffen, die unsere tägliche Arbeit mit digitalen Materialien für Jahre bestimmen werden.
Was denken Sie?
Soweit der Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz. Die Kommentare sind offen. Haben Sie Fragen? Weitere Punkte zum Thema? Oder Widerspruch? Wir freuen uns über jeden Beitrag, der der Meinungsbildung dient!