Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
OER befindet sich auf dem Weg in den Mainstream. Was könnte noch schief gehen? Eine Antwort lautet: Es könnte sein, dass wir die Lernenden aus dem Blick verlieren. Eine Kernidee des „Open“ droht verloren zu gehen, warnt in seiner Kolumne jOERan Muuß-Merholz.
Es denken doch alle an die Lernenden, oder?
In der Fernsehserie „Die Simpsons“ ist der Charakter Helen Lovejoy für den empörten Ausruf bekannt: „Kann denn nicht ein einziges Mal jemand an die Kinder denken?!“ (Vgl. Video unten.) Ein Teil der Komik in dieser Szene rührt daher, dass scheinbar gar kein Mangel an Gedanken an die Kinder besteht. Gleichzeitig wird deutlich, dass die wohlmeinenden Erwachsenen eher FÜR die Kinder als AN die Kinder denken. Die Grundannahme der Erwachsenen laute: Sie wissen besser als die Kinder, was die Kinder brauchen.
[Helen Lovejoy, Die Simpsons. Von YouTube aus eingebunden, nicht unter freier Lizenz. (Die englische Wikipedia hat übrigens einen eigenen Artikel „Think of the children“.).]
Bei OER-Angeboten gibt es ein Helen-Lovejoy-Syndrom: Anbieter von OER gehen davon aus, dass sie für die die Lernenden mitdenken und ihre OER-Angebote an den entsprechenden Bedürfnissen ausrichten. Zu diesem Zweck machen sich die Anbieter Gedanken über Bedarfe, Zielgruppen und Anwendungsszenarien.
Man kann nicht keine Zielgruppe denken
Wir können nicht keine Zielgruppe denken. Zumindest unterschwellig laufen immer Bilder der Lernenden und der Einsatzszenarien mit. Wenn wir OER-Angebote denken, dann denken wir lehrseitig. Der Lernende sitzt ja nicht mit am Tisch. Dabei fehlt uns die Phantasie, dass die Lernenden vielleicht ganz andere als in unseren Zielgruppenkonzepten sind und dass sie mit unseren Materialien etwas ganz anderes anfangen, als wir uns das gedacht haben. Das ist keine Frage unserer Anstrengungen. Selbst mit viel Phantasie werden wir nie die unendliche Vielfalt des Lernens mitdenken können.
Im 21. Jahrhundert sind Lernen und Bildung unordentlich. Es gibt vielleicht bald mehr untypische Lernsituationen als typische Settings. Die Grundidee von Open Education berücksichtigt das (schon seit Jahrzehnten). #Open heißt auch, dass die Lernenden besser als die Anbieter wissen, was sie für welchen Zweck wie nutzen.
Der Erfolg von OER
Ein nennenswerter Teil der OER-Angebote wird in Deutschland 2019 von Institutionen gemacht werden. Die Institutionen können gar nicht anders, als „ihre“ Zielgruppen und „ihre“ Anwendungsszenarien mitzudenken. Das sind naturgemäß nur Möglichkeiten, die wir schon kennen und die mehr oder weniger mit Lerninstitutionen verbunden sind. Wie können wir (in den Institutionen) lernen, über die Institutionen hinaus zu denken?
2018 wurden 23 geförderte OER-Projekte abgeschlossen (mit Erfolg). Und gerade erst wurde die gute Nachricht verkündet, dass die Förderung für OERinfo um weitere zwei Jahre verlängert wurde. Auch das OERinfo-Angebot ist nach Bildungsbereichen strukturiert – natürlich. Denn es richtet sich ja in erster Linie an die Anbieter, nicht an die Lernenden. Das soll an dieser Stelle auch nicht in Frage gestellt werden. Es geht vielmehr um einen Appell, auch an uns selbst: Lasst uns das Bewusstsein bewahren, dass wir nur einen Bruchteil des lernseitigen Bildes kennen. Open heißt auch „ungezielte Offenheit“, also offen für das, was wir uns als Anbieter nicht vorstellen können.
Was bedeutet ungezielte Offenheit konkret?
Was bedeutet das für das Handeln der OER-Anbieter? Einige Stichworte als erste Ansätze und Ideen:
- Es bedeutet NICHT: Wir verzichten auf lehrseitige Überlegungen.
- Hilfreich ist, dass wir bei der Sortierung der Lernlandschaft nicht nur die üblichen Schubladen, nämlich i.d.R. Bildungsbereiche und Bildungsstufen, nutzen, sondern immer auch eine „Joker-Kategorie“. Bei OERinfo nennen wir diese Kategorie „The Great Wide Open“.
- Wir können von (vermeintlich) ganz andere Ansätzen lernen. YouTube-Videos oder Wikipedia-Artikel sind gute Beispiele für Lernangebote, zu deren Nutzung wir wenig wissen. Trotzdem (oder deswegen?) funktionieren sie sehr gut.
- Wir sollten immer die Lernenden vor Augen haben, die über Interesse an einem Thema und eine Google-Suche zu unserem Angebot finden.
- Dazu gehört auch, dass wir viel Aufwand in Maschinenlesbarkeit und SEO stecken. Damit erleichtern wir das Auffinden unserer Angebote für diejenigen Menschen, von denen wir uns nicht einmal vorstellen können, dass sie danach suchen.
- OER-Angebote sollten auch in einer Form bereitgestellte werden, die nicht der Didaktisierung durch den Anbieter unterworfen ist. Ein Beispiel wären Videos aus einem Onlinekurs, die auch ohne den Kurs (oder gar erst nach Erreichen eines bestimmten Fortschritts im Kurs) zugänglich sind.
- Wir können eine größere Akzeptanz für die Mittel und Wege, die Orte und Gewohnheiten der Lernenden entwickeln. Das bedeutet z.B. WWW, Facebook, Dropbox und Whatsapp.
- Bei den Rahmenbedingungen für die Erstellung von OER müssen wir mehr Risiko ermöglichen. In Förderanträgen für OER ist derzeit wohl kaum denkbar, keine Zielgruppen und Anwendungsszenarien zu beschreiben (oder auch nur zuzugeben, dass wir über den größten Teil der Nutzung nichts wissen).
- Wir könnten die Entwicklung der Rechte der Lernenden vorantreiben (oder zunächst zur Kenntnis nehmen). Martin Lindner hat mit einem Kapitel über das „Guerilla-Lernen“ in seinem 2017 erschienenen Buch „Die Bildung und das Netz“ eine starke Grundlage gelegt.
Was denken Sie?
Soweit der Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz. Die Kommentare sind offen. Haben Sie Fragen? Weitere Punkte für die Aufzählung? Oder Widerspruch? Wir freuen uns über jeden Beitrag, der der Meinungsbildung dient!
3 Kommentare zu “„Kann denn nicht ein einziges Mal jemand an die Lernenden denken?!“”
Als Lehrkraft an einer Beruflichen Schule finde ich es abwegig die Lerninhalte NICHT in Kooperation mit den Lernenden zu entwickeln. Die haben super Ideen und können auf jeden Fall viel Feedback auf die Wirksamkeit geben.
Sicherlich dauert es öfters mal länger von der Idee bis zum Launch eines Plugins für unserer Plattform. Z.B. hat unser Arnold. der Algorithmus für den interaktiven Glossar, letztlich mehrere Jahre gedauert und steckt noch in den Kinderschuhen.
Hauptsache man hat gemeinsam Spaß beim Weg.
Danke für diesen Artikel. Genau dieser Aspekt liegt mir schon lange am Herzen, und ist der Grund, weshalb ich meinen eigenen Ansatz entwickelt und auf den OERcamps 2017 vorgestellt habe. Auf der einen Seite kam bei meinen Kindern noch nichts von den vielen großen und wirklich großartigen Projekten wirklich an, und auf der anderen Seite haben wir im Studium schon selbst so viele Lernmaterialien untereinander organisiert und ausgetauscht, dass ich überzeugt bin, dass dies im digitalen Zeitalter noch deutlich effizienter, transparenter und nachhaltiger möglich sein muss. Solange wir aber mit OER nur Zulieferer für geschlossene LMS sind, solange ist Open Education aus meiner Sicht noch lange nicht erreicht. Ich würde mich freuen, wenn wir OER mehr im Kontext von Open Education betrachten.
Euer Beitrag ist echt Perfekt. Habe ihn mit echt viele Liebe gelesen. Der ist schon ein bisschen lang aber dazu hast du hier alles schön befasst. Bitte weiter so machen