Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
„Das ist aber nicht wirklich offen!“ lautet ein Vorwurf, der in der Open-Community häufig erhoben wird. Das stimmt, wenn ein Material gar keine freie Lizenz trägt oder die Bearbeitung nicht erlaubt ist. Trotzdem muss man mit dem Vorwurf „nicht wirklich offen“ vorsichtig sein, warnt Jöran Muuß-Merholz in unserer Reihe von Meinungsbeiträgen. Die einseitige Argumentation blende die Perspektive der Lernenden aus. Außerdem können wir von der Verbreitung witziger Katzenfotos lernen, wo die wichtigste Grenze der Offenheit verläuft.
Was ist „wirklich offen“?
Der Streit um die Definition von „Open“ in „Open Educational Resources“ ist so alt wie der Begriff selbst. Für die meisten ist die freie Lizenz, die eine Bearbeitung erlaubt, Kern der Offenheit. Stärkere Ansprüche stellt die Fraktion der Open-Fundamentalisten: Es braucht eine freie Lizenz ohne Einschränkungen und außerdem bearbeitbare Dateien in nicht-proprietären Dateiformaten. Auf der anderen Seite des Spektrums treffen wir einen Begriff von „Open“, der sich damit zufrieden gibt, dass Materialien frei (im Sinne von kostenlos) verfügbar sind.
Die de-facto-Standardlizenzen für OER von Creative Commons gibt es in Varianten mit verschiedenen Einschränkungen und entsprechend unterschiedlicher Offenheit (siehe Grafik). Es ist nachvollziehbar, dass Menschen beispielsweise bei einer ND-Lizenz, die die Bearbeitung nicht erlaubt, oder bei einer NC-Lizenz, die die kommerzielle Nutzung ausschließt, nicht von OER sprechen wollen. Aus dieser Logik ist die Nicht-Anwendung einer CC-Lizenz gleichbedeutend mit „geschlossen“.
Was hilft ein Spaltbreit Offenheit?
Für die Diskussion „Was ist wirklich offen?“ hilft die Metapher von der mehr oder weniger offenen Tür. Eine Tür kann unterschiedlich weit offen sein: sperrangelweit, halb geöffnet oder nur einen Spalt breit. Es gibt keinen klaren Schnitt für Offenheit. Gleichzeitig ist der Grad der Offenheit entscheidend für unser Handeln. Eine weit offene Tür ist eine Ermöglichung und eine Einladung für Alle und Alles. Bei einer halb offenen Tür werden manche durch die Tür gehen können, andere müssen draußen bleiben.
Bei offenen und freien Lizenzen ist es wie bei der Tür: Es gibt unterschiedliche Grade an Offenheit und Freiheiten. Aber selbst ein Spaltbreit Offenheit ist besser als eine ganz verschlossene Tür. Man kann durch den Spalt hindurch sehen, was sonst gar nicht sichtbar wäre. Und durch den Spalt hindurch kann es einen Austausch geben.
Offenheit für Lehrende ist nicht gleich Offenheit für Lernende
Bei der Forderung nach „richtiger Offenheit“ kommt häufig die Perspektive der Lernenden zu kurz. Für die Lernenden ist in den meisten Fällen gar keine freie Lizenz, sondern der öffentliche Zugang zu einem Material von entscheidender Bedeutung. Selbstverständlich wäre es noch viel besser, wenn die Lernenden mit dem Material möglichst viel machen können, ermöglicht durch eine freie Lizenz. Aber ein Spaltbreit Offenheit ist für die Lernenden der entscheidende Unterschied. Für sie ist das die erste und größte Frage: Ist ein Video auf YouTube zu finden oder nur auf der DVD eines Verlags zu kaufen? Steht ein Text ohne Hürde im Web, oder ist er nur nach Abonnement oder Bezahlung zugänglich?
Für die Lehrenden liegt der Fall nicht so klar. Sie kommen schneller an den Punkt, an dem ihnen der einfache Zugang nicht reicht und sie mehr Freiheiten und Offenheiten benötigen.
Katzenbilder machen den Unterschied
Clay Shirky hat in seinem Buch „Cognitive Surplus“ beschrieben, wie sich Menschen gestaltend (und nicht nur konsumierend) im öffentlichen Web beteiligen. Er widerspricht der Position, dass die verbreitesten Formen der Beteiligung keine gesellschaftliche Bedeutung hätten. Shirky sucht sich für seine Argumentation die schwächst mögliche Form der Beteiligung heraus: das Erstellen und Veröffentlichen eines witzigen Katzenfotos.
Shirky argumentiert, dass zwischen Katzenfoto und stärkeren Formen des gesellschaftlichen Fortschritts ein weites Kontinuum zwischen schwachem und starkem Engagement liegt. Aber die Unterschiede auf diesem Kontinuum sind graduell und für einen Menschen schrittweise zu erreichen. Aus schwächeren Formen können stärkere Formen werden. Der große und entscheidende Sprung liegt für Shirky vielmehr zwischen den Stufen „gar nichts beitragen“ und „ein Katzenbild beitragen“.
Shirkys Argumentation lässt sich auch auf die Frage nach der Offenheit übertragen. Der größte Unterschied ist der, ob ein Material überhaupt im Web zugänglich ist oder nicht. Der größte Unterschied für die Urheber ist, ob sie sich überhaupt mit CC-Lizenzen auseinander setzen oder nicht.
Viele Türen mögen nur einen Spaltbreit offen stehen. Aber das ist schon ausreichend dafür, dass wir uns sehen können und dass die Luft zwischen den Räumen zirkulieren kann. Und es reicht aus, dass wir einen Fuß in die Tür stellen und über weitere Öffnung sprechen können.
Offen zur Diskussion!
Wie weit offen muss die Tür sein, wenn es um OER geht? Eine Antwort, auf die wir uns wahrscheinlich schnell einigen können, lautet: „Es kommt darauf an.“ Aber auf was kommt es an? Das OERinfo-Team freut sich über Kommentare (unten)!
Open Credits
Ich als Autor bringe häufig selbst als „Offenheits-Fundamentalist“ den Vorwurf „nicht wirklich offen“ an. Ich beziehe mich also in die Kritik mit ein.
Die Metapher von der Tür haben schon andere vor mir verwendet. Ich kann den Ursprung nicht nachvollziehen. (Wenn etwas schon lange verbreitet ist, dann ist meist David Wiley ein guter Tipp für die erste Quelle.)
Shirky spricht in seinem Buch von den Katzenbildern nicht als der „schwächsten“, sondern als der „dümmsten“ Form der Beteiligung: ”The stupidest possible creative act is still a creative act.”
6 Kommentare zu “„Ein bisschen open“ geht nicht! Oder doch? Was die Offenheits-Fundamentalisten übersehen…”
Ich plädiere für eine Öffnung/Erweiterung der Perspektive, die über OER hinausgeht und Offenheit/Openness in der Bildung betrachtet. Darum geht es doch im Kern, nicht um Materialien und Katzenbilder. Es geht um Möglichkeiten, Bildung zu öffnen und dabei sind OER ein Ansatz. Je mehr wir uns im Kleinklein verstricken und uns um die „richtige“ Lizenz streiten, desto mehr verlieren wir die breitere Perspektive aus den Augen.
Schauen wir zurück in der Zeit, sehen wir, wie sich die Idee von Öffnung in der Bildung verändert: https://openpraxis.org/index.php/OpenPraxis/article/view/23
Ein feiner kleiner Text, der (im Gegensatz zu vielen anderen Satzaneinanderreihungen quer durch den Online-Offline-Blätterwald endlich einmal) einladend und nicht abweisend auf alle die wirkt, die ihre Tür nicht sperrangelweit geöffnet haben bzw. dies aus Gründen gar nicht können … oder wollen.
Klar ist es schön, etwas zu sehen, was man sonst gar nicht sehen könnte. Dennoch mach ich lieber mit, als dass ich nur Zuschauer bin oder durch Türspalte glotze. Und nutzen und etwas mit-machen geht halt nur mit offenen Lizenzen. Wenn wir die OER-Definition verwässern, was eh häufig genug passiert, verfallen wir der Beliebigkeit und können OER nicht mehr voran bringen. Das heißt nicht dass nicht links und rechts spannende Sachen gemacht werden oder gerade der erste Schritt auf OER zu noch CC-Lizenzen sind, die die Nachnutzung kompliziert machen. Denn auch: L3T erschien in der ersten Version nicht unter einer offenen Lizenz – und gilt nun als OER-Leuchtturmprojekt. 😉
„Je mehr wir uns im Kleinklein verstricken und uns um die “richtige” Lizenz streiten, desto mehr verlieren wir die breitere Perspektive aus den Augen.“
#Whataboutism hilft uns hier nicht weiter. Ich finde auch die aus OER resultierenden Möglichkeiten spannender, als „nur die schnöden Lizenzen“ zu diskutieren. Diese sind aber die Grundlage für alles, was folgt bzw. dafür, wer damit offen Lernen kann und wer von dieser Öffnung der Bildung profitiert.
Gerade durch die OER-Förderlinie haben wir durchaus genügend Kapazitäten für beide Themen (und noch ein paar mehr), genau dafür sind die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren doch adressiert worden.
Nochmal zum Problem allgemein: International werden NC- und ND-Lizenzen bei OER nicht so vehement ausgeschlossen, wie in der deutschen Debatte, das ist mir auf der OER18 und der OE Global gerade wieder bewusst geworden. Aus den Diskussionen heraus habe ich dafür 2 Gründe für mich herausgehört:
1) Generelle Unterschiede im Umgang mit Werken bspw. durch Fair-Use-Regelungen und
2) der aggressivere Umgang von kommerziellen Anbietern wie Verlage, offen lizenzierte Materialien in ihre Produkte zu integrieren und dann hinter Paywalls zu stellen (das „das macht doch keiner“-Argument wurde mir von 2 Personen ausgeredet). Nun gut, muss man so stehen lassen.
Es geht doch auch gar nicht darum, dass alles unter realOpen Lizenzen gestellt werden muss. „I don’t judge people by their licenses“ hab ich in einem Gespräch gesagt: alle Urheberinnen und Urheber dürfen und sollen das selbst entscheiden dürfen, was mit ihrem Werk passiert. Menschen, die Katzenbilder im Netz teilen sind aber nicht die, die über OER sprechen – und die müssen es meiner Meinung nach auch in Zukunft nicht tun, denn das ist gar nicht wichtig, um Memes und GIFs zu versenden.
Die Frage ist doch: wollen wir alles, was irgendwie im Netz rumsteht, als OER bezeichnen, nur weil man es weitersenden kann? Ich denke nicht, denn letztendlich sollte doch die rechtssichere Verwendung inkl. Remix für alle das Ziel sein. Der Begriff ist doch weniger für Katzenbilder da als für ((über-)akademische?) Diskussionen (wie diese hier ;)) – und im letzten Schluss auch, um bei OER-Förderung die Grenze festzulegen, was finanziert werden soll und was nicht.
>International werden NC- und ND-Lizenzen bei OER nicht so vehement ausgeschlossen
Also Cable Green von Creative Commons sagt klipp&klar, dass ND-Ressourcen nicht OER sind.