Jan-Martin Klinge ist Lehrer und Mitglied der Schulleitung an einer Gesamtschule. In seinem Blog halbtagsblog gibt er Einblicke „in die Freude und auch Möglichkeiten des Lehrerberufs“ und berichtet viel über Schulentwicklung, Unterrichtsmethoden sowie Digitalisierung an Schulen. Da an seiner Schule das Thema „Offenheit von Materialien und Unterrichtsprozessen“ großgeschrieben wird, haben wir ihn für ein Interview eingeladen. Er beantwortet unsere Fragen zur Umsetzung der Offenheit an seiner Schule, worin er den Unterschied zwischen „Teilen“ und „Öffnen“ sieht und welcher Maßnahmen es aus seiner Sicht (als Teil der Schulleitung) für eine Kultur des Öffnens bedarf.

Ein Interview mit Jan-Martin Klinge
Wann sind Sie zum ersten Mal mit Open Education in Berührung gekommen?
Ich erinnere mich, dass mich die grundsätzliche Idee des „offenen Kooperierens“ faszinierte, als ich vor vielen Jahren das erste Mal dem Betriebssystem „Linux“ begegnete. Der Gedanke, ein quelloffenes System zu haben, das jeder weiterentwickeln konnte und sollte, erschien mir grunddemokratisch und beeindruckte mich sehr.
Sie haben einen Blogbeitrag mit dem Titel „Teilst Du noch oder öffnest Du schon? (2)“ veröffentlicht. Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen dem bloßen Teilen von Materialien und echtem Öffnen? Und was hat Sie dazu motiviert, über den Unterschied zu schreiben?
Ausgangspunkt für meinen Blogbeitrag war ein Artikel von Niels Winkelmann, der schrieb, dass offene Bildungsmaterialien (OER) wertvoll seien, aber alleine nicht ausreichten – es brauche eine Kultur der Offenheit im Sinne einer Kultur der Digitalität. Statt nur fertige Unterrichtsmaterialien zu teilen, plädiert Winkelmann für das Öffnen des gesamten Unterrichtsprozesses: von der Planung über die Durchführung bis zur Reflexion. Da ich seit vielen Jahren in der Schulleitung arbeite, ist für mich die Perspektive spannend gewesen, wie man diese „Öffnung des Unterrichtsprozesses“ auf systemischer Ebene umsetzen kann.
Warum reicht es Ihrer Meinung nach nicht aus, Materialien „einfach nur weiterzugeben“?
Im Unterschied zu jungen Lehrkräften vor zwanzig Jahren herrscht heutzutage kein Mangel an Material mehr, der Berufseinsteigern abverlangt, jede Stunde selbst neu zu gestalten. Ich denke, fast jeder Kollege hat irgendwo einen Ordner namens „Unsortiertes“ herumliegen mit hunderten Arbeitsblättern, Stationenlernen und Unterrichtsentwürfen. Es wird vieles (wenn nicht alles) weitergegeben. Aber im Überfluss liegt auch die Gefahr schlechter Vorbereitung und Umsetzung.
Was gewinnen Lehrkräfte und Lernende durch offene Materialien und Praktiken – über die rechtliche Absicherung hinaus?
Materialien, die ich – quelloffen – verändern und anpassen kann, gewinnen an Qualität. Eine kopierte Buchseite muss ich nehmen, wie sie ist. Aber einen offenen Text kann ich – nicht zuletzt mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz – blitzschnell auf meine Lerngruppe anpassen. Offene Materialien können qualitativ besseren Unterricht erzeugen.
Wie setzen Sie Offenheit im Unterricht um?
Aus meiner Perspektive der Schulleitung finde ich Offenheit in der einzelnen Unterrichtsstunde gar nicht so relevant. Deshalb würde ich die Frage gerne umformulieren: „Wie setzen wir Offenheit in der Schule um?“
An unserer Schule sind die Fachschaften sehr eng miteinander verzahnt und teilen die gleichen Ressourcen und Unterrichtsvorhaben. Diese Materialien werden von jedem Jahrgangsteam permanent und ununterbrochen verändert, verbessert und überarbeitet. Es gibt keine Lehrkraft bei uns, die „einfach ihr Ding macht“. Alle teilen alles. Das hat – in meiner Wahrnehmung – zu einem veränderten Verständnis von Kooperation geführt. Statt eines USB-Sticks, der hin und wieder herumgereicht wird, arbeiten Kolleginnen und Kollegen gemeinsam an Unterrichtsvorhaben und passen diese immer wieder neu an. Ich behaupte: Niemand möchte mehr zurück zum Einzelkämpfertum.
Welche Hürden erleben Sie im Kollegium oder in der Bildungslandschaft, wenn es um den Umstieg von „teilen“ zu „öffnen“ geht?
Meine Materialien mit anderen zu „teilen“ erzeugt eine gewisse Verletzlichkeit: Jemandem meine Umsetzung zu zeigen, gibt dem anderen die Möglichkeit zu Kritik und Urteil. Obwohl wir berufsbedingt permanent die Arbeit anderer beurteilen, sind wir doch nicht selten sehr empfindlich, wenn es um unsere eigene Arbeit geht. Material und Unterrichtsideen zu „öffnen“ geht da noch einen Schritt weiter: Verändere mein Material (am besten mit mir und der Fachschaft zusammen) und entwickle es weiter. Dieser Schritt erfordert zum einen die Bereitschaft, sich selbst Kritik auszusetzen als auch ein Gefühl des Miteinanders: Wenn ich der einzige bin, der teilt (und kritisiert wird), dann verkümmert ein solcher Ansatz sehr schnell.
Mittlerweile bin ich überzeugt: Eine Umsetzung funktioniert nur systemisch, also von Schulleitung, Lehrerkollegium und Fachschaft gemeinsam eingeführt.
Welche konkreten Schritte braucht es Ihrer Meinung nach, um eine Kultur des Öffnens in der Schule zu etablieren?
So hehr die Ziele auch sein mögen: Es braucht auch eine technische Plattform, auf der eine Kultur des „Gemeinsamen Arbeitens“ möglich ist. Die Wikipedia – als einfaches Beispiel – würde nicht auf Papier gedruckt funktionieren. Das Prinzip klappt nur, weil jeder engagierte User von jedem Computer aus die Möglichkeit hat, Artikel zu überarbeiten. Drei Minuten nach der Wahl des Papstes war der Artikel schon aktuell.
Entsprechend braucht ein Lehrerkollegium die technische Plattform, auf der Unterrichts-Materialien bereitliegen. Es braucht darüber hinaus den sicheren Umgang mit dieser Plattform – einmal im Halbjahr ein Arbeitsblatt herunterladen reicht da nicht.
Ist dies gegeben folgt – meines Erachtens – der Weg von oben nach unten: Es braucht eine Schulleitung, die eine Vision des gemeinsamen Arbeitens hat und dies in die Fachschaften trägt. Absprachen müssen verbindlich werden.
Was würden Sie Kolleg*innen raten, die erste Schritte in Richtung Open Educational Resources und Open Educational Practices (OEP) gehen möchten?
In jedem Kollegium gibt es Lehrkräfte, die eine Idee von intensiv verzahnten Fachschaften und maximaler Kooperation haben. Sie werden auch konkrete Vorstellungen davon haben, wie sich das (technisch) an ihrer Schule umsetzen lässt. Ihre erste Aufgabe muss sein, die Schulleitung von dieser Vision argumentativ zu überzeugen: Verzahntes Arbeiten senkt die Arbeitsbelastung ungemein, erhöht die Verbindlichkeiten und stärkt Zusammenarbeit (und damit Lehrergesundheit). Mit der Schulleitung im Rücken kann man dann weitere Schritte angehen, sich Best-Practice-Beispiele ansehen von Schulen, in denen das gelebt wird und dann die Fachschaften ins Boot holen, um verbindliche Absprachen zu treffen.
Das Interview führte Angela Karnoll
