„OER fördert Lobby-Material“ – ein Mythos!

Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz

Staatliche Zentralstelle zur Prüfung von Unterrichtsmaterialien
Grafik „Staatliche Zentralstelle zur Prüfung von Unterrichtsmaterialien“ von Hannah Birr unter CC BY 4.0

„OER bietet Lobbyisten ein Einfallstor, durch das sie ihre manipulativen Materialien in die Schulen und damit in die Köpfe bringen!“ So lautet ein verbreitetes Argument in der Debatte um Open Educational Resources. Die folgerichtige Forderung: Vor so einer Gefahr müssen Lehrer*innen und Schüler*innen geschützt werden!
Doch diese Argumentation beruht auf einer falschen Grundannahme und bildet konsequent fortgeführt sogar eine Gefährdung unserer Demokratie, argumentiert Jöran Muuß-Merholz in diesem Meinungsbeitrag.

Richtig Sorge, falscher Kontext

Das Argument klingt vordergründig plausibel: Wenn immer mehr OER den Weg in den Unterricht findet, dann steht dieser Weg den tollsten, aber auch den problematischsten Materialien offen. Interessenvertreter können diesen Weg nutzen, quasi als Trittbrettfahrer, um damit ihre Inhalte in die Schulen zu bringen und so Schüler*innen manipulieren.
Die Relevanz der Frage wird noch deutlicher, wenn man sich die mittelfristigen Trends in Sachen Materialformate vor Augen hält. Im Zeichen von individualisiertem Lernen und Binnendifferenzierung werden modulare Materialien wie Arbeitsblätter oder kurze Videos wichtiger. Nach einer Studie (Neumann 2015, S. 86) hat das Arbeitsblatt das Schulbuch als bedeutendstes Lehrmittel abgelöst. Und für diese kleinformatigen Materialien bietet das Internet bestens geeignete Bezugsquellen.
Genau hier ist der Denkfehler des Arguments „OER erleichtert Lobby-Materialien“ zu verorten: Die Vereinfachung, über die (auch) Lobbymaterialien den Weg in den Klassenraum finden können, beruht auf der Digitalisierung des Materials und der Distribution auf Online-Kanälen. Mit OER, also offener und freien Lizenzierung, hat das nichts zu tun.

Wie Lobbymaterialien funktionieren – mit und ohne OER

Die folgende Tabelle listet auf, welchen Einfluss OER darauf hat, wie gut beliebige (also auch problematische) Materialien wie Arbeitsblätter, Videos etc. angesichts von Digitalisierung und Vernetzung verbreitet werden können. Zur Erinnerung: Der Unterschied zwischen traditionellen Materialien und OER besteht in der Offenheit der Ressourcen hinsichtlich Lizenzen und Dateiformaten.

Open Educational Resources ? frei erhältliche Unterrichtsmaterialien

Gewerkschaften wie die GEW, Aktivisten wie Bildungsradar / René Scheppler oder Verbraucherschützer*nnen tun gut daran, sich für die Qualität und Vielfalt von Unterrichtsmaterialien einzusetzen. So sieht eine Forderung wie hier von der GEW zunächst nachvollziehbar aus:

Zugleich mahnte Hoffmann, der Einfluss von Privatwirtschaft und Lobbyisten müsse begrenzt werden: ‘Damit OER – wie die zahlreichen bereits vorhandenen digitalen Materialien im Netz – nicht zu einem weiteren Einfallstor für die Kommerzialisierung schulischer Bildung werden, muss die Bildungspolitik ein Mindestmaß an Verantwortung für Qualität und Transparenz übernehmen.

In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.
In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.

Es ist aber gefährlich, wenn in der Debatte immer wieder OER mit „digitalen Materialien im Netz“ (GEW) oder „frei erhältliche Unterrichtsmaterialien“ gleichgesetzt oder vermischt werden. Das Alleinstellungsmerkmal von OER ist die pauschale Erlaubnis zur Veränderung und Weitergabe – zwei Eigenschaften, die untrennbar mit einem Kontrollverlust der Urheber über den Inhalt verbunden sind. Es ist nicht anzunehmen, dass Lobbyisten gerade diesen Kontrollverlust über Materialien für besonders erstrebenswert halten.

Foto „Abgelehnt“ von Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0
Foto „Abgelehnt“ von Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0

„Staatliche Zentralstelle zur Prüfung von Unterrichtsmaterialien“

Wer mehr „Qualitätssicherung“ und dafür„staatliche Verantwortung“ und gar „Kontrolle“ fordert, muss sich im Klaren darüber sein: Eine konsequente Fortführung dieser Forderung stellt die pädagogische Freiheit in Sachen Lehrmittel in Frage. In der Konsequenz endet man bei einem Zulassungsverfahren für alle Materialien, so wie sie bei Schulbüchern in den meisten Bundesländern existiert. Wenn man das auf Arbeitsblätter, Video etc. ausweitet, landet man bei einem Settting, bei dem Materialien nur in den Unterricht gelangen dürfen, wenn sie eine zertifizierte Prüfung durchlaufen haben.

Eine solche „staatliche Zentralstelle zur Prüfung von Unterrichtsmaterialien“ ist denkbar und in einigen weniger demokratischen Staaten durchaus schon existent. Man darf aber berechtigte Zweifel daran haben, dass dadurch die Qualität und die Vielfalt von Materialien gefördert würde. Selbstverständlich würde sich diese Konzept nicht mit der Bearbeitbarkeit von OER vertragen. Das bedeutete dann tatsächlich das Ende von OER für Schulen in Deutschland. Allerdings wäre das nur eine Nebenwirkung der drastischen Beschneidung unserer pluralistischen Demokratie.

Creative Commons LizenzvertragDieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz für OERinfo – Informationsstelle OER.

7 Kommentare zu “„OER fördert Lobby-Material“ – ein Mythos!

  • Vielen Dank für diesen Beitrag und die Replik auf meinen Post (http://bildungsradar.de/2018/01/23/unterrichtsmaterial-auf-abwegen-eine-gefahr-fuer-oer/).

    Ich sehe weiterhin zwei Punkte, die ich nochmals ausführen möchte:
    „Es ist nicht anzunehmen, dass Lobbyisten gerade diesen Kontrollverlust über Materialien für besonders erstrebenswert halten.“ Diese Annahme halte ich für grundlegend falsch. Nicht nur zeigt die aktuelle Entwicklung im Bereich der richtig angeführten „Arbeitsblätter“ oder schulbuchunabhängigen „Unterrichtsmaterialien“ eine genau gegenteilige Entwicklung (siehe Prof. Matthes / Uni Augsburg und „Materialkompass“ der Verbraucherzentrale). Zudem liegt das Whitepaper einer Marketingagentur vor, die eben genau die Potentiale von OER für deren Geschäft analysieren und zu einer grundsätzlich positiven Einschätzung kommen (http://bildungsradar.de/2016/04/16/oer-aus-der-sicht-der-lobbyisten/).
    Auch meine eigenen Gespräche und Diskussionen in diesem Feld signalisieren mir viel mehr, dass in diesem Bereich eine regelrechte Hoffnung in einem möglichst liberalisierten Markt von Unterrichtsmaterialien als auch möglichst zentralen Verteilplattformen „ohne Streuverluste“ gesetzt wird.

    Die potentielle Korrektur – das zeigt ebenfalls das Whitepaper – ist keine besondere „Gefahr“ für die tendenziöse Absicht, da – und da sind die Lobbyisten nunmal Realisten durch und durch – gerade in den lobbybelasteten Fächer (und das sind eben nicht Mathe oder englisch) in sehr vielen Bundesländern ein sehr hoher Anteil fachfremder Lehrer unterrichten. In Hessen in eigenen Fächern und Schulformen deutlich über 50%.
    Hinzu kommt die grundsätzliche Überlastung vieler Lehrer*innen, die eine Korrektur, Anpassung der Materialien im Alltag nur bedingt möglich machen. Zumal, wenn diese professionell aufbereitet, Einheiten ineinander und aufeinander aufbauend strukturiert sind. Und zudem setzt die Korrektur eine Analyse des Materials voraus, um zu erkennen, wo welche Korrektur, Ergänzung oder sonstiges notwendig ist. Auch dies ist mit einem im Lehreralltag nicht zu unterschätzendem Aufwand verbunden.

    Zweitens zur Monitoringstelle:
    Dies ist eben nicht die Idee einer Prüf- und Zulassungsstelle. Dies wäre in der Tat undemokratisch. Nein, ihre Idee beruht auf der Unterstützung und Entlastung der Lehrer*innen. Sie soll bewerten und Empfehlen, kann auf Gefahren/Fehler/Einseitigkeiten hinweisen aber auch positive Materialien hervorheben. Ich zitiere hierzu aus der neuen Broschüre von Lobbycontrol, die es – wie ich auch in meinem Beitrag – nochmals erklären (https://www.lobbycontrol.de/produkt/lobbyismus-an-schulen-broschuere/):
    „Für externe Unterrichtsmaterialien sollte eine staatliche Monitoringstelle einge- richtet werden. Sie sollte keine formale Zulassungsstelle sein, also nicht versu- chen, alle Materialien zu prüfen und dann zuzulassen oder zu verbieten. Sie sollte eher ein Korrektiv sein, das den kritischen Umgang mit Materialien fördert und Leh- rerInnen mit externem Rat unterstützt.
    Lehrer sollten diese nutzen können, um au ällige Materialien zu melden oder auch zeitnah überprüfen zu lassen. Die Monitoringstelle dient dann als Informa- tionsquelle über einseitige und manipula- tive Materialien. Sinnvoll wäre außerdem die Bereitstellung eines Leitfadens zum kritischen Umgang mit externen Materia- lien für LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen.“

    Ich hielte es für recht naiv, diese aus meiner Sicht noch „offene Flanke“ der positiven OER-Entwicklung zu ignorieren. Mit einem bewussten Umgang damit könnte man einer im Markt der freien Unterrichtsmaterialien aktuell hoch problematische Tendenz von vornherein begegnen. Und damit – das wäre meine Überzeugung – sowohl die Lehrer*innen unterstützen/entlasten als auch das Vertrauen in OER deutlich erhöhen.

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  • „Ich hielte es für recht naiv, diese aus meiner Sicht noch ‚offene Flanke‘ der positiven OER-Entwicklung zu ignorieren.“

    Hier bin ich bei Jöran: die offene Flanke besteht nicht bei OER, sondern bei Lernmaterialien. Sobald man es zu OER weiterreicht, wird ein verstärktes Problem mit OER suggeriert und von anderen Fraktionen gern aufgegriffen und als Problem von OER formuliert.

    Oder anders herum gefragt: warum thematisiert niemand „OER und gendergerechte Sprache“ als Spezialthema? Auch hier besteht die Möglichkeit, dass OER hinsichtlich dieses Qualitätskriteriums nicht ausreichend gut sind. Auch hier besteht die Gefahr der Unterwanderung von den „weißen Männern“. Dennoch höre ich keine Kritik wie „Bei OER kann man sich nicht sicher sein, dass sie gendergerecht sind und darum brauchen wir hierfür eine Monitoringstelle“. Aber es ist eben kein OER-spezifisches Problem, sondern eins, auf das wir bei allen Lehr- und Lernmaterialien achten müssen.

    Ich befürworte die reflektierte Auseinandersetzung mit Lobbyismus in der Bildung, insb. in der Schule. Ich verstehe auch, dass mit Artikeln wie diesem http://bildungsradar.de/2016/04/16/oer-aus-der-sicht-der-lobbyisten/ versucht wird, die OER-Community auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Allgemeine Fragestellungen (bspw. auch wie man gute Lehrvideos erstellt) sind für diese Community durchaus spannend. Der Titel suggeriert aber, dass OER Lobbyismus vereinfachen würde oder hier eine besondere Problematik sei, was nicht so ist (hat Jöran erläutert) und daher auch meine Bezeichnung als „Clickbaiting“ auf Twitter. Damit tut man weder den Anti-Lobbyismus-Aktivist*innen (komisches Wort) noch der OER-Community einen Gefallen, sondern nur den Open-Bekämpfer*innen, die mit alten Geschäftsmodellen die Möglichkeiten zeitgemäßer Bildung einschränken.

    (außerdem wollte ich Updates zu diesem Beitrag abonnieren ;))

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    • Tatsächlich handelt es sich ei Thema, dass alle Unterrichtsmaterialien betrifft.
      Doch die OER-Community beteiligt sich doch mit einem neuen, anderen (richtigen und guten) Ansatz an genau diesem. Sie wird damit quasi zu einem Teil der Unterrichtsmaterial“branche“. In dieser Rolle/Situation kann und sollte man aus meiner Sicht bestehende als auch neue, sich entwickelnde Probleme aufgreifen, thematisieren und zur Lösung beitragen – letztlich doch auch im eignen Sinne und Interesse. Aus meiner Sicht wäre es für alle beteiligten sehr hilfreich, wenn aus dieser neuen, beweglichen, agilen, dynamischen, zukunftsorientierten, digitalen usw. Ecke ein entsprechender Impetus käme. Statt sich darauf zurückzuziehen, dass dies ein „generelles Problem“ sei.

      Auch wenn Vergleiche immer zu einem gewissen Teil problematisch sind, wage ich diesen:
      Tesla steigt mit einem neuen Konzept der Automobilität in die „Branche“ ein. Sie erkennen bestehende und/oder zukünftige Probleme der „Branche“ und wecken diese auf, indem sie diese benennen und auch Lösungsmodelle entwickeln. Natürlich müssen auch Tesla&Co sich an gewisse Vorgaben, Richtlinien und Regeln halten – können nicht einfach „ihr Ding“ machen. Aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten nutzen sie die Chancen einer Verbesserung oder Problemlösung (die sie erkennen).

      Natürlich kann man die Welt nicht alleine retten. Aber man kann sie im eigenen versuchen zu verbessern. Und ich denke und wünsche mir, dass dies der OER-Community ganz gut anstehen würde. Niemand würde doch klagen, wenn aus dieser Richtung neuer Unterrichtsmaterialkonzepte mit offener Lizenz eine IDEE, ein Modell oder auch nur eine Forderung für eine Qualitätssicherung von Unterrichtsmaterialien käme. Die Haltung: „not my cup of tea“ (überspitzt und provozierend 😉 ) spielt doch am Ende des Tages denjenigen in die Karten, die wir wahrscheinlich alle nicht in unseren Unterrichtsmaterialien haben wollen – egal ob OER oder nicht.

      Letzter Gedanke: Wenn das Genderproblem eines in Unterrichtsmaterialien ist und als solchen erkannt/benannt wird, wäre es doch begrüßenswert, sich diesem anzunehmen. Natürlich braucht es innerhalb der OER-Bewegung immer jemanden, der sich kümmert. Aber zurück zum Lobbyismus/Werbung im Material: Ich wäre da und gerne bereit, an Ideen für eine Problemlösung mitzudenken. Mein Beitrag sollte einer in diesem Sinne sein.

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  • Leonhard Dobusch :

    Mir ist die Argumentation von Jöran zu defensiv. Ich argumentiere nämlich regelmäßig (z.B. hier) umgekehrt: mehr OER ist sogar eine Möglichkeit gegen Lobbymaterial, und zwar insbesondere wenn (endlich) auch öffentlich-finanzierte und ggf. eben qualitätsgeprüfte Materialien als OER online zugänglich und verwendbar sind. Heute sind diese Materialien nämlich hinsichtlich Zugänglichkeit im Nachteil gegenüber Lobbymaterial.

    Umgekehrt halte ich es nämlich auch für falsch, von Seite mancher OER-VerfechterInnen jegliche Form von staatlicher oder sonstiger Zertifizierung von Lernmaterial als Eingriff in die Freiheit der Lehrenden zu verstehen. Im Gegenteil, Zertifizierungen können ein wichtiges und hilfreiches Service für Lehrkräfte darstellen. Ich finde es z.B. sehr schade, dass es den VZBV-Materialkompass nicht mehr gibt bzw. war er mMn schon davor unterdotiert.

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  • In den meisten Punkten sind wir uns glaube ich einig, ich bin nur dagegen, dass es als OER-Problem (und damit nicht oder nur weniger als Closed-Lehrmaterialproblem) formuliert wird. Ohne dem wäre sicher auch dieser Meinungsbeitrag hier nicht entstanden.

    Die Lösung kann ich Dir nennen: Poste das lobbyistisch* unterwanderte Material unter dem Hashtag #OERde und ich bin mir sicher, es gibt ein paar Aktive aus der OER-Community, die es aufgrund der entsprechenden Lizenzen abändern und entsprechend republizieren.

    *Ich nehme hier mal einen Konsens an, das wir hier eine Art negativen Lobbyismus meinen, den Begriff kann man ja weit fassen und dann Umweltlobbyismus oder Gleichstellungslobbyismus dazu zählen – auch Aktivisten der OER-Community sind hier sicher auch nicht meinungsneutral.

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