Auch außerhalb fester Lernrahmen spielt es eine wichtige Rolle, wie Bildungsmaterialien verfügbar sind und wie sie eingesetzt oder verändert werden können. Bei DisKursLab – Labor für antisemitismus- und rassismuskritische Praxis, einem Modellprojekt der Evangelischen Akademie zu Berlin in Kooperation mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) werden Bildungsformate für Theologie und Religionspädagogik entwickelt. Dabei verschränken sich inhaltlich Fragen der Diskriminierungssensibilität, Digitalität und Demokratisierung. OER können bei der Förderung von antisemitismus- und rassismuskritischer Bildung und Praxis helfen, findet das Team von DisKursLab.
Ein Beitrag von Philipp Weichenrieder
Lernen, kommunizieren, spielen, konsumieren – längst tun wir das auch digital. Nicht erst, seitdem Kontaktbeschränkungen und social distancing als Maßnahmen genutzt werden, um die COVID-19-Pandemie einzudämmen, prägen digitale Plattformen unsere Leben und Gesellschaften. Musik oder Filme und Serien werden digital rezipiert, Social Media-Plattformen und Messenger dienen zur Kontaktpflege. Der digitale Teil unserer Lebenswelt beeinflusst, wie wir die stofflichen Bereiche wahrnehmen, im Positiven wie Negativen.
Offener Hass und unbewusste Gewalt
In den vergangenen Jahren ist besonders erkennbar geworden, wie auch menschenfeindliche Einstellungen und Motive, die auf Imageboards, in Chatforen, auf Social Media-Plattformen oder auf Video-Plattformen geäußert werden, Perspektiven auf die Welt mitbestimmen. Die Anschläge in Halle 2019 und Hanau 2020 sind nur zwei Beispiele, wie Täter*innen durch digitalen Austausch und digitale Inhalte in ihrer auf konstruierten Feindbildern aufgebauten Weltsicht bestätigt werden. Kommentare, Chat-Nachrichten, Memes, Videos mit rassistischen, antisemitischen, sexistischen, homosexuellenfeindlichen Inhalten sind präsent und häufig leicht und frei zugänglich.
Solche Inhalte verengen das Weltbild. Es sind aber nicht nur offensichtlich menschenfeindliche Positionen, die unser Denken und Handeln prägen. Tradierte Vorstellungen, Deutungen, Bilder, Worte oder Architekturen wirken sich genauso aus. Es sind oft nur die besonders expliziten Beispiele von Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus, die schockieren. Allerdings wirken diese Ideologien viel häufiger dezent, subversiv.
Ein Beispiel aus der Alltagssprache ist die Bezeichnung von als scheinheilig empfundenen Personen, insbesondere von Politiker*innen als „Pharisäer“. Ein Begriff, der eigentlich eine jüdische Denkströmung bezeichnet, wird durch eine Deutung des Zweiten Testaments, in dem „die Pharisäer“ (zumindest in der Luther-Übersetzung) schlecht wegkommen als hinterhältige Verschwörer, die ihre Macht erhalten wollen, indem sie Jesus aus dem Weg räumen, zur Beleidigung. Dass ein Heißgetränk, in dem Alkohol durch eine Sahnehaube überdeckt und damit das „Lasterhafte“ versteckt wird, bis heute auch so heißt, zeigt, wie stark Bedeutungen in den Alltag eingeschrieben sind und auch über einen kirchlichen Kontext hinaus bis heute ausstrahlen.
Bildung & Praxis: Wir alle sind Teil des Problems und wir alle sind Teil der Lösung
Politische Bildung kann beidem entgegenwirken – den offensichtlichen wie den eher unbewussten Ausformungen von Antisemitismus und Rassismus. Hier setzt antisemitismus- und rassismuskritische Bildung an. Bei DisKursLab bedeutet das nicht nur, dass rassistische und antisemitische Motive und Einstellungen thematisiert werden. Diese zu erkennen, zu verstehen, zu hinterfragen und andere Positionen zu finden, ist ein Teil der Bildung. Ein anderer ist, sich bewusst zu sein, dass wir in der Gesellschaft, in der wir leben, mit solchen Motiven und Sichtweisen aufwachsen, sie in uns aufnehmen, von ihnen zumindest beeinflusst sind, wenn wir sie nicht sogar weitergeben oder festigen – bewusst oder unbewusst.
Wir alle sind Teil des Problems und wir alle sind Teil der Lösung. Deswegen spielt die Reflexion eigener Erfahrungen und Perspektiven eine wichtige Rolle dabei, dass Bildung auf Praxis einwirken kann. Im Fall von DisKursLab steht dabei insbesondere christliche Theologie und Religionspädagogik im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Verstrickungen und Abwehrmechanismen sensibilisiert kirchliche Akteur*innen für diskriminierende und intersektional wirkende Mechanismen und stärkt ihre eigene antisemitismus- und rassismuskritische Praxis.
Frei verfügbare Impulse
Bildungsformate wie Qualifizierungs-, Weiterbildungs- oder Fortbildungsformate können Impulse sein, die hoffentlich eine langfristige Auseinandersetzung anregt. Sie können den Teilnehmenden auch Ideen für Material geben, das sie wiederum beispielsweise in Gemeinden oder der Jugendarbeit einsetzen können.
DisKursLab soll nicht nur Material zeigen, sondern auch Inspiration für die Praxis sein. Daher bietet es sich an, die Bildungsmodule als OER zu gestalten. Dadurch wird Bildung transparent und für die Teilnehmenden, die auch Akteur*innen sind, verständlich und besser durchführbar. Wenn OER frei und niedrigschwellig digital zugänglich sind, bleibt Wissen erhalten und kann weiterverbreitet werden.
Durch die Flexibilität, die OER in der Gestaltung bringen, können Akteur*innen das Material für ihre jeweiligen Kontexte anpassen. Damit können Bildungsmaterialien und Formate nachhaltig und breit wirken. OER, die von Akteur*innen auf Nutzen, Durchführbarkeit und die Möglichkeiten freier Gestaltung getestet werden, haben das Potenzial, die Arbeit anderer zu erleichtern und zu inspirieren.
Im Feld antisemitismus- und rassismuskritischer Praxis gilt wie in anderen Bereichen der Bildung: Je mehr gut aufbereitetes und verfügbares Bildungsmaterial es gibt, desto besser. Wenn OER schnell, leicht und flexibel einsetzbar ist, bei gleichzeitiger Tiefe der Vermittlung, kann Bildung wirksam sein gegen menschenfeindliche Einstellungen, wie sie unter anderem auf digitalen Plattformen präsent sind – und Menschen in ihren antisemitismus- und rassismuskritischen (Alltags-)Handlungen stärken, ob im digitalen oder stofflichen Raum.