„Das ‘O’ in ‘OER’ steht nicht für ‘Qualität’!“ 10 Dinge, die OER untergeschoben werden

Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz

Das „O“ in OER, Foto: Chris Dies, CC BY 4.0

Die Diskussion um Open Educational Resources wird erschwert, weil der Buchstaben ‘O’ in „OER“ mit falschen Bedeutungen auf- und überladen wird. Mit OER werden viele Themen verbunden, die gar keine OER-spezifischen Fragen sind, argumentiert Jöran Muuß-Merholz in seinem Meinungsbeitrag.

10 Dinge, die dem Thema OER untergeschoben werden.

Die folgende Liste sammelt zehn Eigenschaften, die häufig mit OER gleichgesetzt werden, die aber spätestens beim zweiten Blick weder hinreichende noch exklusive Merkmale von OER sind.

1. Das ‘O’ steht nicht für „digital“.
Es ist vielleicht der verbreitetste Kurzschluss zu Open Educational Resources, dass OER mit digitalen Materialien gleichzusetzen sei. Aber keiner der drei Buchstaben ‘O’, ‘E’, ‘R’ steht für „digital“. Umgekehrt gilt: Man kann OER auf Papier machen. Und digitale Materialien können durchaus nicht-offen sein.

2. Das ‘O’ steht nicht für „Amateur“ oder „unprofessionell“.
OER lässt sich genauso gut professionell produzieren wie Materialien, die nicht offen sind. Bücher als OER in Schulverlagen oder preisgekrönte MOOCs sind lebendige Beispiele dafür. Umgekehrt soll es durchaus schon vorgekommen sein, dass nicht offene Materialien amateurhaft produziert wurden.

3. Das ‘O’ steht nicht für „unkommerziell“ oder „kostenlos“.
Auch mit OER lässt sich Geld verdienen, zum Beispiel bei Auftragsarbeiten. Das gilt für konkrete Materialien wie auch für Plattformen wie amazon oder meinunterricht.de. Umgekehrt kann man durchaus unkommerziell arbeiten und Materialien zwar kostenlos, aber nicht offen teilen.

4. Das ‘O’ steht nicht für „Bildung“.
Nun gut: Die UNESCO wirbt mit dem Slogan „Bildung für alle“ für OER. Aber sowohl bei der UNESCO wie auch überall sonst, wo ernsthaft über Bildungsgerechtigkeit nachgedacht wird, weiß man: Zu „Bildung“ gehört mehr als nur Ressourcen, ob sie offen sind oder nicht.

5. Das ‘O’ steht nicht für „Qualität“ bzw. fehlende Qualität.
In fachlichen und politischen Debatten wird immer wieder die Qualitätssicherung von OER zum zentralen Thema erhoben. Warum eigentlich? Die Q-Frage ist keine O-Frage. Alle Maßnahmen zur Qualitätssicherung, die wir von nicht offenen Materialien kennen, lassen sich auch auf OER anwenden. Und umgekehrt ist es ja nicht so, dass nicht offene Materialien keine Probleme mit der Qualität haben.

6. Das ‘O’ steht nicht für „Lobbyismus“.
„OER ist das Einfallstor, mit dem Lobbyisten ihre manipulativen Materialien in die Schulen und damit in die Köpfe bringen!“ So lautet ein Vorwurf gegenüber OER, den man durchaus als gefährlichen Mythos interpretieren kann. Denn OER unterscheidet sich in der Eignung für Lobby-Materialien nur in einem einzigen Punkt von nicht offenen Materialien: OER ist offen für Bearbeitung und Veränderung. Alles andere lässt sich auch ohne das ‘O’ machen.

 

bei traditionellen Materialien

bei OER

Das Material kann von überall stammen und von jedermann erstellt worden sein.
Es gibt keine Zulassungsverfahren oder ähnliches.
Das Material kann unvollständig, fehlerhaft, tendenziös oder manipulativ sein.
Das Material kann umfassend, korrekt und großartig sein.
Die Lehrkraft vor Ort muss urteilen und entscheiden, welches Material sie in welchem Kontext (nicht) einsetzt.
Das Material kann kann ein Label „frei“ tragen, ohne an eine feste Definition gebunden zu sein.  
Das Material kann von jedermann verändert und auch in veränderter Form weitergegeben werden.

7. Das ‘O’ steht nicht für „Auffindbarkeit“
OER-Materialien sind nicht einfach auffindbar, monieren sowohl Theoretiker als auch Praktikerinnen. Das mag stimmen – aber es ist keine OER-spezifische Eigenschaften von Bildungsmaterialien. Auch für nicht frei lizenzierte Materialien gibt es weder ein Zentralverzeichnis noch gute Optimierungen für die Suche.

8. Das ‘O’ steht nicht für „links“.
Bisweilen wird das ‘O’ mit einer politischen Richtung gleichgesetzt, nämlich der linken. Das mag in Deutschland zutreffen, lässt sich aber mit internationaler Brille nicht halten. In den USA beispielsweise findet OER auch Anklang bei Republikanern, die damit das Homeschooling und die Anpassung an lokale Bedürfnisse unterstützen wollen. Auch die Position „Was öffentlich finanziert wird, sollte Allen offen zur Verfügung stehen.“ ist nicht eindeutig einer politischen Richtung zuzuordnen.

9. Das ‘O’ steht nicht für „Rechtssicherheit“.
Auch wer mit OER arbeitet, ist nicht automatisch vor Arglist oder Fehlern im Umgang mit dem Urheberrecht gefeit. Auch mit freien Lizenzen sind Abmahnungen und anderes Ungemach möglich. Wenn man so will, könnte man sagen: Mit OER wird der Umgang mit Urheberrecht und Lizenzen demokratisiert, im Guten wie im Schlechten.

10. Das ‘O’ steht nicht für „Pädagogik“.
Man kann Lernen und Lehren mit OER stark strukturiert und kontrolliert gestalten. Mit dem ‘Open’ sind nicht zwangsläufig progressive pädagogische Konzepte verbunden. Und umgekehrt kennen wir Konzepte von offener Pädagogik schon deutlich länger als OER.

In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.
In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.

Das ‘O’ in ‘OER’ steht für Offenheit.

In der Diskussion um OER wird das ‘O’ wie „Open“ häufig mit Eigenschaften verbunden, die mal mehr, mal weniger OER-spezifisch sind. Zu den meisten, gerade vielen kritischen Punkten lässt sich festhalten: An OER werden Ansprüche gestellt, die nicht offene Materialien offenbar nicht pauschal erfüllen müssen.

Die tatsächliche Grenze verläuft weder entlang von Digitalisierung, Professionalität, Kosten oder Pädagogik. Das Gegenteil von „OER“ sind nicht analoge, professionelle oder kostenpflichtige Materialien. (Das eigentlich Gegenteil sind quasi „PER“, Proprietary Educational Resources.) Es ist ganz einfach: Das ‘O’ in ‘OER’ steht für Offenheit. Nicht mehr, nicht weniger. Offen zumindest im lizenzrechtlichen Sinne, besser auch noch offen im technischen Sinne und im Sinne von Barrierefreiheit und im besten Falle auch noch mit einer offenen Haltung gegenüber der Welt. OER kann gute Beiträge für eine bessere (Bildungs-)Welt liefern. Aber OER alleine ist weder Ursache noch Lösung für alle Probleme rund um Bildungsmaterialien.

Was denken Sie?

Soweit der Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz. Die Kommentare sind offen. Haben Sie Fragen? Weitere Punkte für die Aufzählung? Oder Widerspruch? Wir freuen uns über jeden Beitrag, der der Meinungsbildung dient!

Creative Commons LizenzvertragDieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz für OERinfo – Informationsstelle OER.

3 Kommentare zu “„Das ‘O’ in ‘OER’ steht nicht für ‘Qualität’!“ 10 Dinge, die OER untergeschoben werden

  • Zum Thema des Lobbyismus:

    Ich hatte in dem verlinkten Beitrag bereits kommentiert aber auch hier erneut. Und ich verschärfe mal bewusst etwas die Argumentation – nicht als Angriff, sondern rein als Verdeutlichung meiner Position -, wenn ich sage: Was unter Punkt 6 geschieht ist Whataboutism. Mit der Haltung, bei Kritik zu rufen, dass es anderswo auch schlimm sei, ist nichts gewonnen. ganz im Gegenteil.

    Ja, auch bei „traditionellen Materialien“ besteht das zunehmende Problem, dass eine Einflussnahme auf Unterricht und Schule stattfindet. Ja, auch bei traditionellen Unterrichtsmaterialien besteht das Problem, dass Lehrer*innen in der Qualitätskontrolle zunehmend überfordert werden. Ja, auch bei traditionellen Materialien besteht die Tendenz, dass sich diejenigen durchsetzen, die viel Geld darauf werfen können und damit „professioneller“, „fertiger“, „einsetzbarer“ im zunehmend überlasteten Lehrer*innenkollegium wahrgenommen werden. Finanzschwache Positionen in unserer Gesellschaft verlieren dieses Wettrüsten absehbar.

    Aber: OER als „BEwegung“ (ich weiß, das wäre jetzt wahrscheinlich Punkt 11 😉 ) hat die Chance, diese Entwicklung zu erkennen und ihr verantwortungsvoll zu begegnen. Sich damit auseinanderzusetzen, Darauf zu reagieren.
    Was ich aber auch in diesem Blogbeitrag wieder raushöre ist – ja – Whataboutism, der Verantwortung von sich weist. Und das finde ich schade und eine vertane Chance für die OER-Entwicklung, einen echten „Mehrwert“ (er hat es gesagt!) zu generieren oder anzubieten.

    Ich möchte auf meinen Blogbeitrag dazu verweisen, in dem ich herausgearbeitet habe, wie „clever“ Marketingagenturen auf OER schielen. Weil sie erahnen und antizipieren, dass das auch im obigen Beitrag herausgearbeitete Kriterium der Veränderbarkeit sich real und im Alltag marginalisieren wird, wenn man das eigene OER nur finanzstark ausreichend professionell erscheinen lässt. die Lehrer*innen haben – da stimmt die Analyse – im Alltag schlicht keine Zeit für diese intensive Qualitätskontrolle: https://bildungsradar.de/2016/04/16/oer-aus-der-sicht-der-lobbyisten/

    Ich wäre daher froh und hoffe weiterhin darauf, dass sich die OER-Bewegung aus dieser verweisenden (einmal auf „traditionelle Materialien“ und hinsichtlich der eigenen Verantwortung) Haltung etwas befreien würde und die eigenen Ideen nicht aufgibt (das fordert niemand), aber weitere Ideen aufnimmt und mit unterstützt. eine davon wäre die unabhängige Monitoriungstelle (siehe beispielhaft als ersten Ansatz in diese Richtung den Materialkompass der Bundeszentrale Verbraucherbildung), die nicht zulassend oder verbietend agiert, sondern empfehlend oder auch warnend. Selbstverständlich nach transparenten Kriterien.
    es geht darum, die Lehrer*nnen zu unterstützen und zu entlasten (wer hier entmündigen oder bevormunden rausliest, will mich missverstehen). Mit den Finger auf die Anderen zu zeigen, erkennt offenbar die grundlegende Problematik an, sagt aber zugleich: Not my cup of tea.

    Antworten
  • Hallo,
    mich würde es interessieren, wie groß der Anteil der Lehrer in Deutschland ist, der OER regelmäßig nutzt. Und wenn man die Lehrer nimmt, welche keine OER verwenden, ob es die gleichen Vorurteile/Missverständnisse als Grund gennant werden, oder ob es weitere gibt. Findet überhaupt eine Kommunikation zw. OER Akteuren und Lehrern statt?
    Vielen Dank für den Beitrag!

    Antworten
  • Jöran Muuß-Merholz :

    Danke für die Rückmeldung, Herrmann! Da wir keinen Konsens über die Definition von OER haben, gibt es keine Antworten zu den Nutzungszahlen. Bzw. es gibt ganz viele. Aber die Umfragen, die ich kenne, zum Beispiel beim Monitor Digitale Bildung, sind aus meiner Sicht viel zu hoch. Sie suggerieren ein Verständnis von OER als „kostenlos aus dem Internet“. Zur zweiten Frage „ Findet überhaupt eine Kommunikation zw. OER Akteuren und Lehrern statt?“ Das kommt auf die OER-Akteure an. Sehr viele (die meisten?) von ihnen sind ja selbst Lehrer, beispielsweise bei zum.de. Oder hattest Du bei OER-Akteure etwas Spezifischeres im Sinn?

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