OER ist nicht „noch eine Baustelle“, sondern ein Katalysator für Medienkompetenz

Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz

Rocket, Ashim Shres, Pixabay License.

Über die Nach- und Vorteile von OER wurde viel gesprochen. Im Folgenden geht es um einen bedeutenden Nebeneffekt der Ausbreitung von OER. Es ist quasi eine erwünschte Nebenwirkung von OER, dass die Arbeit mit offenen Bildungsmaterialien eine die Förderung von Medienkompetenz begünstigt. Dies soll zunächst anhand der von der KMK ausgerufenen „Kompetenzen in der digitalen Welt“ und anschließend an übergeordneten Fragen durchdekliniert werden. Es wird deutlich, dass OER nicht „noch eine zusätzliche Baustelle“, sondern eine Unterstützung für die Arbeit an den existierenden großen Baustellen bedeuten kann.

Freiheiten im Umgang mit Lehr-Lern-Materialien

OER wird verstanden als Lehr-Lern-Materialien, die den Lernenden die 5V-Freiheiten gewähren:

  1. Verwahren/Vervielfältigen – das Recht, Kopien des Inhalts anzufertigen, zu besitzen und zu kontrollieren (z.B. Download, Speicherung und Vervielfältigung)
  2. Verwenden – das Recht, den Inhalt in unterschiedlichen Zusammenhängen einzusetzen (z.B. im Klassenraum, in einer Lerngruppe, auf einer Website, in einem Video)
  3. Verarbeiten – das Recht, den Inhalt zu bearbeiten, anzupassen, zu verändern oder umzugestalten (z.B. einen Inhalt in eine andere Sprache zu übersetzen)
  4. Vermischen – das Recht, einen Inhalt im Original oder in einer Bearbeitung mit anderen offenen Inhalten zu verbinden und aus ihnen etwas Neues zu schaffen (z.B. beim Einbauen von Bildern und Musik in ein Video)
  5. Verbreiten – das Recht, Kopien eines Inhalts mit Anderen zu teilen, im Original oder in eigenen Überarbeitungen (z.B. einem Freund eine Kopie zu geben oder online zu veröffentlichen)

Aus Sicht der Schüler*innen: Kompetenzen in der digitalen Welt (KMK) und OER

Die Auflistung von Kompetenzen in der digitalen Welt ist Teil der Strategie „Bildung in der digitalen Welt“, die der die Kultusministerkonferenz (KMK) 2016 als „ihren Beitrag zur Gestaltung einer der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit“ veröffentlichte. Dabei werden sechs Kompetenzbereiche für Schüler*innen unterschieden, die im Folgenden mit der besonderen Brille des Themas OER betrachtet werden. Die Frage lautet also: Inwieweit lassen sich diese Kompetenzen mit den oben beschriebenen Freiheiten besser oder weiter entwickeln als ohne Offenheit?

  • Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren“: Hier kommt die 1. und die 3. V-Freiheit offensichtlich zur Geltung. Wenn Verarbeitung oder Aufbewahrung von Materialien schlicht nicht erlaubt oder technisch nicht möglich ist, dann beschränkt sich diese Kompetenz auf den Umgang mit flüchtigen und unveränderbaren Materialien. Auch beim Suchen und Filtern kommt der Offenheit eine zentrale Bedeutung zu: Geschlossene Materialien kommen in Suchprozessen oft schlicht gar nicht vor oder sind durch hohe Hürden nicht zugänglich.
  • Kommunizieren und Kooperieren“: Zu diesem Bereich gehören für die KMK unter anderem die die Handlungsbereiche „Teilen“, „Zusammenarbeiten“ und „aktive Teilhabe an der Gesellschaft“. Es wird schnell klar, dass geschlossene Materialien das Teilen und Zusammenarbeiten weitgehend ausschließen bzw. sogar unter Strafe stellen. Indirekt ist auch die aktive Teilhabe an der Gesellschaft mit offenen Materialien einfacher, wenn zum Beispiel mit offen lizenzierten Materialien erstellte Videos öffentlich geteilt werden können.
  • Produzieren und Präsentieren“: Unter dieser Überschrift listet die KMK drei Punkte auf: „Entwickeln und Produzieren“, „Weiterverarbeiten und Integrieren“, „Rechtliche Vorgaben beachten“. Bei den ersten beiden ist wieder offensichtlich, dass das mit freien Inhalte um Größenordnungen besser funktioniert als ohne. Und auch der letzte Punkt, bei dem es auch explizit um urheberrechtliche Fragen geht, ist eng mit OER verbunden. Schließlich beginnen die meisten praktischen Einführungen in das Thema OER mit der (Er-)Klärung der Grundlagen zum Urheberrecht.
  • Die weiteren drei Kompetenzbereiche heißen „Schützen und sicher Agieren“, „Problemlösen und Handeln“ sowie „Analysieren und Reflektieren“. Hier mögen die Bezüge zu OER nicht so offensichtlich sein, aber sie sind vorhanden. Beispielsweise unterstützt Offenheit den Unterpunkt „Digitale Werkzeuge und Medien zum Lernen, Arbeiten und Problemlösen nutzen“ oder auch den Punkt „Medien analysieren und bewerten“.

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die von der KMK ausgegebenen Kompetenzen in der digitalen Welt lassen sich mit OER deutlich besser entwickeln als ohne Offenheit. Die gilt insbesondere für die konkreten, an digitale Materialien gebundene Tätigkeiten von Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren bis zu Produzieren und Präsentieren.

Aus Sicht der Schule: Wie gehören OER und Medienkompetenz zusammen?

OER hilft auch bei den Fragen, die über konkreten Unterricht hinausgehen. Die folgende Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und illustriert einige Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen Medienkompetenz und OER.

Der Artikel ist im Absatz „Aus Sicht der Schule“ teilweise eine Reuse und Remix des Textes Was haben OER mit digitaler Integration und Medienkompetenz zu tun? von Jöran Muuß-Merholz mit Anregungen von Felix Schaumburg und Thomas Bernhardt. Erschienen 2013 in: Lernen in der digitalen Gesellschaft – Offen, vernetzt, integrativ. Von Luise Ludwig, Kristin Narr, Sabine Frank, Daniel Staemmler (Hrsg.). Internet & Gesellschaft Collaboratory, 2013. S. 98-100. Im Netz kaum noch zu finden, nur über Google Books. CC BY 3.0 DE.
  • Das Menschenbild der lernenden und der lehrenden Personen hinter OER ist das von aktiven, kommunizierenden, partizipierenden, kooperierenden, kreativen Menschen (und nicht das von passiven, rezipierenden, anwendenden Menschen). Dies entspricht den Grundannahmen der gängigen Konzepte von Medienkompetenz.
  • Gesellschaftliche Partizipation und Inklusion brauchen Offenheit. In technischer wie in kultureller Hinsicht müssen die Hürden so niedrig und die Einstiegsmöglichkeiten so einfach wie möglich sein, damit der Einzelne aktiv gestalten, sich und die eigenen Interessen einbringen kann. Im Rahmen von Lehr-Lern-Situationen gilt das umso mehr. Denn hier wird ständig als „Subtext“ mitgelernt, ob Inhalte nur nach Vorgabe Ihrer Produzenten passiv konsumiert oder aber aktiv gestaltet, verändert und geteilt werden können. OER stehen für eine mediale Emanzipation.
  • Für das Erstellen, Verteilen, Finden, Auswählen und Anwenden von OER ist Medienkompetenz gleichzeitig Voraussetzung und Ergebnis. Lehrende brauchen und entwickeln Medienkompetenz also durch die Beschäftigung mit OER. Insofern sind OER ein riesiges Medienkompetenz-Förderungsprojekt für Lehrer*innen sowie potentiell auch für Mitarbeiter*innen in Verlagen, Behörden, Stiftungen etc.
  • Die Befassung mit digitalen Materialien kann bei OER nicht nur rein quantitativ mehr, sondern auch intensiver werden: Das Verständnis von Medienkompetenz kann sich für viele Personen erweitern. Zu Medienkompetenz gehört nicht nur die mehr oder weniger banale Anwendung von Materialien (quasi als Bedienung von Medien), sondern vielmehr die selbstbestimmte Nutzung, kritische Einschätzung, kreative Gestaltung, der kollaborative Austausch von und mit Medien.
  • Immer mehr Lehrende nutzen digitale Materialien, digitale Werkzeuge und digitale Plattformen, aber häufig unreflektiert und unsystematisch. Der größte Anteil der Medienkompetenz wird informell durch Voneinanderlernen unter Lehrenden entwickelt. OER verstärken dies, weil über die gemeinsame Entwicklung von Materialien auch die Kollaboration zwischen Digital-Fortgeschrittenen und Digital-Anfängern unterstützt wird. Bisher wird diese Form der Kollaboration häufig im stillen Kämmerlein praktiziert oder findet gar nicht statt, weil Lehrende wissen fühlen, dass sie sich in urheberrechtlich problematischen Gefilden bewegen.
  • Materialien zum Einsatz in der Medienkompetenzförderung lassen sich als OER entwickeln. Dabei kann auf zahlreiche schon vorhandene Materialien zurückgegriffen werden, die bereits als OER vorliegen.
In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.
In loser Folge erscheinen in der Reihe „jOERans Meinungsbeiträge“ Kommentare, die Diskussionen rund um OER anregen sollen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie Ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Fragen unten als Kommentar veröffentlichen. In dieser Reihe geht es – wie der Name schon sagt – nicht zwingend um eine Positionierung von OERinfo.

Zusammenfassung

Es besteht eine hohe geistige Verwandtschaft zwischen den Konzepten von OER und von Medienkompetenz. Das beginnt bei den Grundannahmen zum Menschenbild und geht bis zum konkreten Umgang mit Unterrichtsmaterialien im Klassenraum. In Diskussionen sollte also keine Konkurrenz zwischen beiden Konzepten bestehen. („Wir haben mit den KMK-Kompetenzen schon genug zu tun und können uns jetzt nicht noch zusätzlich mit OER beschäftigen.“) Vielmehr fördern die Beschäftigungen mit beiden Themen sich gegenseitig und erleichtern das praktische Handeln.

Wie immer bei jOERans Meinungsbeiträgen gilt: Kommentare sind sehr willkommen!

Was denken Sie?

Soweit der Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz. Die Kommentare sind offen. Haben Sie Fragen? Weitere Punkte für die Aufzählung? Oder Widerspruch? Wir freuen uns über jeden Beitrag, der der Meinungsbildung dient!

Creative Commons LizenzvertragDieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz für OERinfo – Informationsstelle OER.

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