Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
Ich schreibe diesen Beitrag kurz nach dem vierten von vier #OERcamps in 2018. In Hamburg waren wieder viele sehr engagierte, sehr interessierte, sehr motivierte Menschen zusammengekommen, um miteinander und voneinander zu OER zu lernen und „die Sache voranzutreiben“, wie es jemand sagte. Es gibt ein gewisses „Wir“-Gefühl, und es ist oft von „der Community“ die Rede. Das klingt gut – und das ist gut! Gleichzeitig mache ich mir Gedanken, was in den nächsten Jahren nach diesem „Wir“ kommen wird – und ob das etwas ganz anderes sein wird, als wir es vielleicht annehmen.
Die nächste Gruppe ist nicht wie „Wir“
These 1: Die OER-Community ist diffus und im Fluss.
Das „Wir“ oder „die OER-Community“ sind Zuschreibungen von innen und außen, die eine Gruppe beschreiben, die zum jeweiligen Zeitpunkt gerade besonders aktiv in Sachen #OER ist. Für die Mitgliedschaft in dieser Gruppe gibt es keine klaren Kriterien. So ist es recht diffus, wo die Community anfängt oder aufhört. Außerdem verändert sich die OER-Landschaft in Deutschland recht schnell, so dass sich die Zugehörigkeit, aber auch die Qualität der Community ständig im Fluss befindet.
These 2: Die OER-Community wird sich auch zukünftig weiter verändern. Die nächste Gruppe ist nicht wie „Wir“.
Diese zweite These ist banal. Dennoch sollten wir uns über die Auswirkungen Gedanken machen. Was passiert, wenn nach den ersten Gruppen (das jetzige „Wir“) neue Gruppen nachkommen? Häufig gehen wir naiv davon aus, dass „wir“ dann einfach nur mehr werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die nächsten Gruppen nicht nur mehr, sondern auch anders sind.
Schauen wir auf andere Communities und ihre Entwicklungen (jeweils mit stark vereinfachendem Blick):
- Die Netz-Community setzte bis vor 10 Jahren große Hoffnungen auf den Einfluss des Internets auf Partizipation und Inklusion in der Gesellschaft, auf Selbstverwirklichung und Engagement. Dann rückten die nächsten Gruppen ins Netz nach – und heute sehen wir stattdessen mehr Hass und Hetze, Überwachung und Kontrolle, Ausgrenzung und Rückzug.
- Die Airbnb-Community stand zu Beginn für alternatives Reisen. Ihre Mitglieder wollten persönliche Verbindungen, individuelle Unterkünfte und (im Wortsinne) un-professionelle Gastgeber. Heute dominieren professionelle Vermieter und anonyme Apartments, die man ähnlich wie ein Hotelzimmer bucht.
- Die Coworking-Community lief es ähnlich. Die Vorreiter dieser geteilten Arbeitsorte standen (und stehen noch) für Gemeinschaft und Zusammenarbeit, Kreativität und Offenheit, Nachhaltigkeit und Zugänglichkeit. Heute stampfen große Immobilienanbieter quasi Nachbauten solcher Coworking-Spaces aus dem Boden und sprechen von „flexiblen Workspaces“ und beleben mit Elemente aus dem Coworking ihr Konzept von „Business Centern“.
Alle Beispiele haben gemeinsam, dass sich nicht unbedingt die Ideale der frühen Community verändert haben. Es gibt immer noch die Vorreiter und den Kern der Bewegungen: Das betahaus und viele andere Coworking Spaces im ursprünglichen Sinn sind aktiver als zuvor. Man findet bei Airbnb immer noch charmante Gelegenheiten zum Schlafen auf dem Sofa. (Das „Airb“ stand ursprünglich ja für „air bed“, also Luftmatratze.) Und auch in der Netz-Community finden sich immer wieder hoffnungsvolle Beispiele. Allerdings haben sich durch die Expansion der Akteure – die ursprünglichen Gruppen gerieten damit in die Minderheit – in den jeweiligen Feldern die Felder insgesamt massiv verändert.
Was passiert, wenn (falls) auch die OER-Community in diesem Sinne „erfolgreich“ sein wird und breitere Kreise nachkommen, wenn also das erstrebte OER-Mainstreaming erfolgreich wird?
Die Ausweitung der OER-Community (OER-Mainstreaming)
(Das folgende Modell ist vereinfacht, unterkomplex, zu linear, nicht empirisch untersucht etc. Ich verstehe es als Denkmodell.)
These 3: Die OER-Interessierten lassen sich in Gruppen aufteilen, die mit nachlassendem Interesse größer sind.
Ich stelle mir die OER-Community und diejenigen, die von OER betroffen sein könnten, es aber faktisch noch nicht sind, als konzentrische Kreise vor (siehe Foto oben):
- Die Avantgarde: Ganz am Anfang stand eine zweistellige Zahl von Menschen, die schon vor mehr als 10 Jahren mit OER vertraut waren, beispielsweise im OLCOS-Projekt.
- Die nOERds: Im Mittelpunkt der Kreise liegt ein kleiner, harter Kern. Diese Gruppe umfasst Menschen, die sich früh und intensiv mit OER beschäftigt, viel Aufwand dafür betrieben haben und sich sehr gut mit dem Thema auskennen. Die Gruppe umfasst in Deutschland eine dreistellige Anzahl von Menschen.
- Die Sympathisanten: Es folgt ein Kreis in vierstelliger Größenordnung. Seine Mitglieder finden recht schnell Zugang zum Thema OER, gehen beispielsweise zu einer zweitägigen Veranstaltung wie dem OERcamp und wollen sich auch im Anschluss daran weiter mit OER beschäftigen.
- Die Interessierten: Darum herum folgen Lehrende, die sich tendenziell für OER interessieren, allerdings nicht in der Tiefe, dass sie dafür mehrmals je mehrtägige Veranstaltungen (möglicherweise sogar in ihrer Freizeit) besuchen würden. Der Kreis umfasst eine 5- bis 6-stellige Zahl an Menschen.
- Die peripher Interessierten: Man kann davon ausgehen, dass es in Deutschland eine 6-, eher 7-stellige Zahl von Lehrenden gibt. Sie alle zählen zur potentiellen Zielgruppe von OER. Aber die meisten von ihnen haben noch nie davon gehört, und es ist ungewiss, ob alleine Kenntnis von OER schon Interesse an OER nach sich ziehen würde.
These 4: Ausweitung bedeutet Verwässerung.
Die Kreise lassen sich als Expansion verstehen. Ein Beispiel: 2012 trafen sich beim ersten #OERcamp in Bremen vor allem nOERds und Sympathisanten. 2018 sind auch viele Interessierte dazu gekommen. Wenn es 2020 noch #OERcamps gibt, so müssen diese ggf. auch die peripher Interessierten berücksichtigen.
Mit Stand 2018 wurden durch die OERinfo-Förderlinie des BMBF insbesondere die Multiplikator*innen in den Blick genommen. Diese finden sich in den inneren Kreisen, vor allem bei den Sympathisanten. Die Grundannahme des Programms ist, dass diese Akteure eine Ausweitung in die äußeren Kreise übernehmen werden.
Je weiter das Thema OER sich in die äußeren Kreise ausdehnt, desto „dünner“ wird auch das Interesse an OER. Es ist nicht so, dass eine OER-Interessierte das Gleiche wie ein nOERd lernen und machen wird, nur später. Vielmehr verwässern sich mit der Ausdehnung auch Interesse und Kenntnisse bei der Mehrheit der Menschen in den äußeren Kreisen. In den inneren Kreisen findet man quasi einen harten Kern und je weiter man nach außen schaut, desto „weicher“ oder „dünner“ sind Interesse und Kenntnisse.
These 5: Interesse ist nicht statisch.
Auch wenn der überwiegende Anteil aus den äußeren Kreisen kein tiefergehendes Interesse für OER entwickeln wird, so werden doch einige Menschen in die inneren Kreise wechseln. Genau so werden Menschen aus den inneren Kreisen ihr Interesse verlieren (allerdings nicht ihre Kenntnisse) und in die äußeren Kreise wechseln.
Die Ungewissheit, wie eine OER-Community in der Zukunft aussehen wird, lässt sich nun beispielsweise aus der Zusammenwirkung von These 2 und These 5 ableiten. Auch der harte Kern wird sich also in seiner Qualität verändern.
Fragen zur Diskussion
Wenn wir davon ausgehen, dass die OER-Community in Zukunft nicht einfach nur größer wird, sondern sich auch in ihrer Qualität verändert, dann schlage ich folgende Fragen zur Diskussion vor:
- Was verändert sich, wenn das Thema OER immer mehr Menschen in den äußeren Kreisen erreicht? Verändern sich hier so etwas wie „Mehrheitsverhältnisse“, wenn die Menschen mit hohem Interesse in der Minderheit sein werden?
- Wie verändert sich die OER-Community?
- Gibt es Communities, in denen es deutlich anders gelaufen ist als bei den Beispielen zu These 2? Was kann man von ihnen lernen?
- Unterscheiden sich die Mitglieder der inneren und der äußeren Kreisen vor allem hinsichtlich der Werte und Ideale, die sie mit OER verbinden?*
Antworten und andere Kritik ist sehr willkommen, am liebsten per Kommentar unten im Blog!
(*Danke an Mirjam Bretschneider für diesen wertvollen Diskussionspunkt beim OERcamp in Hamburg!)
3 Kommentare zu “Die Ausweitung der OER-Community. Oder: Die nächste Gruppe ist nicht wie Wir.”
Lieber Jöran,
danke dass du dieses spannende Thema aufgreifst. Ich habe mir dazu auch meine Gedanken gemacht und Ende letzten Jahres präsentiert: https://docs.google.com/presentation/d/147omtBVkIH4YTBhmIBsMvDyP_wVGp97JtwA9Y7u-L78/edit?usp=sharing
Dabei gehe ich davon aus, dass die OER-Community zunächst eine soziale Gruppe ist, mit bestimmten Eigenschaften und Machtstrukturen. Die haben sich über die Jahre herausgebildet und sind nun sehr prägend für die Innen- und Außenkommunikation.
Daher wird der Wechsel von außen nach innen auch schwierig, weil bestimmte Personen ihre Machtposition schützen und ausnutzen werden. Empirisch untersucht wurde das in einer großen Studie von Norbert Elias „Etablierte und Außenseiter“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Etablierte_und_Au%C3%9Fenseiter). Klar, war das ein ganz anderer Kontext, aber bestimmte Prozesslogiken sind kontextunabhängig und daher auch übertragbar.
Zum OER-Mainstreaming: Das bedeutet für mich, dass OER mehr als bisher als Mittel für verschiedene pädagogische Zwecke hervortritt und dadurch „verwässert“. Im Kern bleiben aber die von dir genannten Avantgardist/innen und festigen ihre Machtpositionen.
Soweit in aller Kürze!
Grüße,
Markus
Hallo Jöran,
vielen Dank für diese Denkanstöße! Ich habe keine direkten Antworten auf die aufgeworfenen Fragen, aber steuere gern einige weitere Überlegungen mit meiner Sicht auf die ‚OER-Community‘ und ihrer Zukunft bei.
Also: Unter dem Thema ‚OER‘ haben sich in den letzten Jahren Menschen gesammelt, kennen gelernt, Gelder akquiriert, Projekte angestoßen und ausgetauscht, denen es um sinnvolle Antworten auf die Herausforderungen im Bildungssystem geht. Einige waren dabei insbesondere fasziniert vom Thema OER an sich; für andere waren und sind OER eher ein Mittel zum Zweck, um ‚ihre‘ Themen wie Offenheit, Lernen mit digitaler Unterstützung, eine andere Bildungskultur … voranzubringen.
Zu verdanken ist diese Entwicklung zum Teil günstigen Rahmenbedingungen; zum anderen Teil und vor allem aber dem geschickten Agieren von einigen ‚Treibern‘. Hilfreich war unter anderem das gezielte Ansprechen/ Einsammeln von potentiell Interessierten z.B. im Rahmen des Projekts Mapping OER – und dann die vielen OERcamps und Konferenzen, die u.a. aufgrund ihrer perfekten Organisation und offener Gestaltung immer wieder gewinnbringend waren. So ist eine sehr besondere Community entstanden. Sie zeichnet sich aus meiner Sicht vor allem durch ihren bildungsbereichsübergreifenden Austausch, die Vielfältigkeit, die große Motivation und den sehr konstruktiv-unterstützenden und offenen Umgang untereinander aus.
Sollte es dazu kommen, dass unter dem Label ‚OER‘ in einigen Jahren auch Blödsinn verzapft wird oder sich die ursprünglichen Hoffnungen mit OER zum Teil ins Gegenteil verkehren oder das Thema schlicht so ‚Mainstream‘ wird, dass es gar keiner spezifischen Veranstaltungen mehr braucht, so war dieses Community-Buildung der heutigen ‚OER Community‘ dennoch nicht umsonst. Zum einen deshalb nicht, weil ‚wir‘ ja ganz real einiges angestoßen und erreicht haben in Hinblick auf bessere Bildung für alle. Und zum anderen, weil sich aus der heutigen Community heraus dank der gemeinsam gemachten Erfahrungen, viele der heutigen Beteiligten und natürlich auch viele neue Menschen, dann unter einem oder mehreren neuen Labeln erneut wiederfinden können, um auf Basis gemeinsamer ‚Ideale‘ wie Mündigkeit, digitale Souveränität und Offenheit sinnvolle Antworten auf die dann aktuellen Bildungsherausforderungen zu geben.
Viele Grüße,
Nele
Gutes Thema!
Ich sehe aber mehr Gemeinsamkeiten zwischen den OER- und Open Access-Bewegungen, als zwischen der OER-Bewegung und den von dir genannten Bewegungen.
Meiner Ansicht nach hinkt der Vergleich mit deinen Beispielen. Im Fall von Open Access und OER ist die Politik bereit, die Idee zu unterstützen und durch Projektmittel zu fördern. Gleichzeitig ist weder mit Open Access noch mit OER derzeit Geld zu verdienen wodurch beide Bewegungen nicht wirklich den Bedingungen der Marktwirtschaft unterworfen sind. Die Entwicklung des Netz-Bewegung, von Airbnb und auch von CoWorking bleiben im Wesentlichen dem freien Markt überlassen, die Politik greift, wenn überhaupt, lediglich regulierend und steuernd ein. Die Voraussetzungen unterscheiden sich also schon hier grundsätzlich.
Bei der OER-Bewegung zeigen sich ähnliche Tendenzen wie bei der Open Access-Bewegung, die zerfasert ist und lange sehr zahnlos agierte. Die Communities in der Open Access-Bewegung sind so vielfältig wie die Gründe dafür, warum man sich für das Thema interessiert und die jeweilige Motivation und die Argumente unterscheiden sich in alle Richtungen.
Was der Open Access-Bewegung von Beginn an fehlte um wirklich in Richtung gemeinsamer Ziele zu arbeiten, war die Möglichkeit der Vernetzung der einzelnen Gruppen und Akteure untereinander. Erst 2017, 16 Jahre nach der Budapest Open Access Initiative, startete der nationale Open Access Knotenpunkt, der ähnliche Aufgaben – eben auch die Vernetzung – für Open Access wahrnehmen soll, wie die Informationsstelle OER für freie Bildungsmedien.
Dieses „Wir“ im Sinne einer mehr oder weniger fest umrissenen Community von dem du sprichst, gibt es spätestens mit Beginn der Förderlinie zu OER nicht mehr. Mit den Projekten und um sie herum haben sich weitere Communities gebildet mit denen die „Wir“-Leute nur noch gemeinsam haben, dass sie am selben Thema interessiert sind. Es gibt nicht die eine OER-Community. Es gibt Menschen die sich aktiv für OER einsetzen, Offenheit leben und gleichzeitig keinerlei Interesse daran haben, Teil des „Wir“ zu sein. Es bilden sich parallele „Wir“-Gruppen die ebenso in sich geschlossen bleiben, wie die Community, von der du sprichst wenn du „Wir“ sagst.
Dass Vernetzung als Aufgabe der Informationsstelle OER gleichrangig neben Information und Transfer steht, ist vielleicht, wenn die entsprechenden Aktivitäten gut gemacht sind, die größte Stärke des Programms. Mit den OERcamps und den Jointly-Aktivitäten bieten sich Möglichkeiten, über die die unterschiedlichen Communities in den Austausch treten, wodurch wiederum die Grenzen der einzelnen sozialen Gruppen durchlässiger werden.
Was man aus der Entwicklung der Open Access-Bewegung lernen kann ist, dass es, um der Zerfaserung der Bewegung entgegenzuwirken, sinnvoll ist, die Vernetzung der einzelnen Akteure und Communities untereinander von Beginn an aktiv zu unterstützen.