Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
Wer wahres OER erschaffen will, der darf nicht auf proprietäre Software und geschlossene Standards aufbauen. Microsoft Office und .doc-Dateien sind böse – Libre Office und die OpenDocument-Formate sind gut – soweit die Meinung von Hardcore-OER-Evangelisten. Doch diese Haltung ist kontraproduktiv. Sie sorgt nicht für mehr, sondern für weniger Offenheit.
Der Zweck heißt Zugang
Das „Open“ in Open Educational Resources kann in verschiedener Hinsicht mit Bedeutung gefüllt werden. Zwar fokussieren die meisten Debatten auf urheberrechtliche und software-technische Überlegungen, allerdings sind Lizenzen und Standards nur Mittel zum Zweck. Dieser Zweck lautet Zugang / access, wie es zum Beispiel in den Definitionen von UNESCO (2013: 6), Hewlett-Foundation (o. J.) oder der Open Definition (o. J.) angeführt ist.
Was ermöglicht Bearbeitung von OER?
Nun verstehen wir OER auch unbedingt als Materialien, die nicht nur passiven Zugang ermöglichen, sondern auch die aktive Nutzung, also die Möglichkeit zur Veränderung. Und ganz zweifelsohne braucht es dafür Dateien, die die Bearbeitung erlauben, nicht (nur) PDF-Dateien. Aber die Geister scheiden sich schon an der Frage, welches Dateiformat für eine bearbeitbare Textdatei die beste Lösung sei.
Beispiel I: Dateiformate für Textdateien als OER
Es gibt – in der Theorie – einen klaren Standard, wenn es um Offenheit bei Office-Dateien geht. Es sind die OpenDocument-Dateiformate (der Standard für LibreOffice / OpenOffice). Texte, Tabellen, Präsentationen, Zeichnungen, Bilder und Diagramme können in *.od*-Dateien gespeichert werden. Der freie Quelltext ermöglicht auch in der ungewissen Zukunft, dass wir für die Nutzung und Bearbeitung notwendiger Programme nicht von einzelnen Anbietern abhängig sind. (Serious Fun Fact: Ausgerechnet die OpenDocument-Dateiformate (LibreOffice / OpenOffice) sind im Flaggschiff Wikimedia Commons aufgrund von Sicherheitsbedenken seit 2014 deaktiviert.)
In der Praxis werden heute deutlich mehr Bildungspraktiker*innen etwas mit den Dateiformaten von Microsoft anfangen können als mit od*-Dateien, auch wenn der von Microsoft verwendete Standard Office Open XML nicht ganz so offen ist.
Etwas anders liegt der Fall bei Google Docs. Der Dienst erfüllt nicht die Standards an offene Software und speichert die Dateien auch gleich noch auf den Servern von Google. Wenn man jedoch als Kriterium für Offenheit nicht Standards und Prinzipien zugrunde legt, sondern wenn man Offenheit am praktischen Zugang – auch für die Weiterbearbeitung misst, dann ist Google Docs die offenste Lösung. Sie ermöglicht Zugang UND Bearbeitung über jeden Browser und jedes Betriebssystem, sogar ohne Anmeldung. Sie ermöglicht den Export in alle gängigen Formate, darunter .pdf und .docx, aber auch .odt und .html, wahlweise auch gleich von ganzen Ordnern und kompletten Archiven (Google Takeout).
Beispiel II: Formate für Multimediadateien als OER
Wer eine Audiodatei in Wikimedia Commons hochladen will, kann als Dateiformat zwischen OGG, MIDI, WAV FLAC oder OPUS auswählen. Dafür gibt es gute Gründe, aber gleichzeitig darf man sicher sein, dass mit dem Ausschluss von mp3 und m4a für die meisten Nutzer*innen die Latte zu hoch gelegt wird, um sich aktiv einzubringen.
Und wer weiß schon, wie freie Formate für Video- oder Layout-Bearbeitungen funktionieren? Spätestens hier bewegen wir uns in einer akademischen Diskussion, deren Ergebnisse für die Alltagspraxis Einstiegshürden erhöhen und Zugang und Engagement behindern.
Beispiel III: Diskussion auf Facebook
Die beste Diskussionsgruppe zu OER finden wir in Deutschland auf Facebook. „Ausgerechnet Facebook, dieses Musterbeispiel von Geschlossenheit!“, könnte man meinen. Aber für den Erfolg ist es offenbar nachrangig, ob die Plattform in technischer und rechtlicher Hinsicht offen ist. Facebook wird genutzt, weil es für die meisten Menschen ganz pragmatisch die niedrigsten Hürden in Sachen Zugang setzt.
Fazit: Offen ist, was Zugang schafft!
Bei der Beurteilung von Offenheit müssen wir Abwägungen treffen:
Einerseits sollen in Sachen Zugang möglichst wenig Menschen ausgeschlossen oder zur Nutzung bestimmter Software / Dienste genötigt werden.
Andererseits sollen möglichst viele Menschen möglichst einfach Zugang bekommen und zwar nicht prinzipiell, sondern tatsächlich.
Wenn die OER-Community sich auf Paradigmen und Prinzipien fokussiert, schafft sie vor allem eins: eine Entfremdung von den Praktiker*innen. Es muss darum gehen, Zugang zu schaffen und Hürden zu senken. Für den OER-Alltag muss gelten: Offen ist, was Zugang schafft!
PS: Nachhaltigkeit in Sachen Open
Diese Überlegungen gelten für pragmatischen Umgang mit „Open“ im Alltag. Es gibt sehr wohl Bereiche, in denen auf nachhaltige Offenheit geachtet werden muss. Büchereien und Archive müssen selbstverständlich dafür Sorge tragen, dass Materialien auch in 20 oder 50 Jahre noch zugänglich sind. Die öffentliche Hand ist ist selbstverständlich dafür verantwortlich, offene Alternativen zu fordern und zu fördern. Offene Standards und offene Software sind hier von zentraler Bedeutung.
14 Kommentare zu “Offen ist, was Zugang schafft! Oder: Warum Google Docs für OER wichtiger als Libre Office ist”
*Sorry, Metaebene: Google (ko-) finanziert und ermöglicht so viele Projekte im Bereich der Medienpädagogik und OER und Wikimedia (Wikidata) usw., dass ich Google-freundlichen Beiträge gegenüber skeptisch bin. (Ich war schon erstaunt, wie rund um freundlich das Kinder-Youtube angenommen wurde und hab mir dann gedacht: Okay, die profitieren … die auch … die können nichts gegen Google sagen….) Und ich selbst schätze (weil sie es kaum instruktiv und zurückhaltend machen und auf OER und Making setzen) und verstehe Google dabei auch, dass es sich auf diese Weise einbringt (auch wenn das eigentlich Job der Bildungsverantwortlichen ist). Und ich habe auch schon mittelbar vom Google-Engagement rund um Making/OER profitiert. (Und bin dankbar, dass ich anders als bei der XY-Stiftung keinen Maulkorb umgehängt bekommen habe, ach *upps* da darf man ja gar nicht drüber schreiben, schnell wieder editiert). Und nein, ich reagiere auch nicht reflexartig, weil da das „böse“ Google steht – aber eine datensparsame Alternative eines EU-Unternehmens wäre mir lieber als eierlegende Wollmilchsau der kollaborativen, offenen Texterstellung 🙂
http://www.hackmd.io kommt gut in Fahrt und lässt sich auch auf eigenen Servern installieren (AGPL), ich könnte mir vorstellen dass es sich bei kollaborativen Vorhaben als google Doc-alternative etabliert.
Mit dem Tool kann man via markdown kollaborativ Dokumente anlegen, die man dann in verschiedenen Formaten exportieren kann – bei selbstgehosteten Versionen auch als PDF. Der Zugang lässt sich flexibel steuern, also offen für alle oder nur für wenige Nutzer.
Mit youtube/vimeo/html/Code-Einbettungen kann es teils sogar mehr als Google docs, vgl https://hackmd.io/s/features
Insgesamt stimme ich dem Beitrag weitestgehend zu, ist er doch insgesamt sehr pragmatisch und damit praxisnah gedacht. Erinnert hat er mich auch ein wenig an den Beitrag von Johnny Häusler von Spreeblick (http://www.spreeblick.com/blog/2017/11/03/digitale-bildungspolitik-der-staat-kommt-seinen-aufgaben-und-pflichten-nicht-nach/). Im Sinne von „Wir brauchen jetzt eine Lösung für unser Problem und mit Tool X funktioniert es eben besser als mit der offenen/demokratischen/öffentlichen Variante.“ Kurz- und manchmal auch mittelfristig ist das der Weg den man gehen sollte und der auch immer wieder gegangen wird. Wenn dadurch aber langfristige Lösungen (die der akademischen Diskussion standhalten) in den Hintergrund treten, werden sie perspektivisch zum Hindernis. Insofern ist der letzte Absatz im ‚PS‘ der wohl wichtigste.
Ist die Nähe zum INSM-Spruch „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ eigentlich gewollt? 😉
Auf die Idee, dass gerade Google Docs eine erstklassige OER Maschine darstellt, bin auch ich als Nutzer der Plattform vor einiger Zeit gekommen, habe mich aber nicht so recht getraut, solche „ketzerisches“ Gedankengut nach außen zu tragen. Umso mehr freut es mich, dass auch andere meine Einschätzung teilen.
Google Docs glänzt nicht nur dadurch, dass es in der Lage ist, andere Formate auszugeben, sondern auch durch die Fähigkeit zu kollaborativer Arbeit und die leichte Möglichkeit zum Teilen. Sehr interessant sind auch Erweiterungsmöglichkeiten durch Plugins. Da wäre einmal ein Plugin zur Integration von passendem Bildmaterial, „Pixabay Free Images“, und dann ist da noch das Plugin „Creative Commons License Chooser“, welches die Lizenzierung enorm vereinfacht.
Deontologische Ethik vs. teleologische Ethik? „Free as in beer“ vs. „Free as in speech“?
Beispiel aus Übersee. Diese OER Bücher wurden alle von vielen Lehrern in Südafrika in Google Docs zusammen geschrieben, automatisch umgewandelt und dann noch lekturiert und gestaltet. Das ganze ist jetzt schon ca. 4-5 Jahre her:
http://www.mstworkbooks.co.za/natural-sciences/natural-sciences.html
PDFs: http://www.mstworkbooks.co.za/downloads.html
(ich war an der automatischen Umwandlung beteiligt)
GoogleDocs ist für den Sprachen- oder Sachkundeunterricht sicher in Ordnung, genauso wie SharePoint oder Office365+. Für mathematische, natur- oder ingenieurwissenschaftliche Dokumente gibt es aber aufgrund der vielen Formeln, Diagramme, Schemata und Tabellen aber eigentlich nur ein brauchbares Dokumentenformat, nämlich LaTeX. Alles andere gilt dort zurecht als „quick-and-dirty“. Klar kann man es schnell in Word machen, richtig, ordentlich und nachhaltig macht man es jedoch in LaTeX.
Glücklicherweise gibt es dafür mit Overleaf oder ShareLaTeX mittlerweile auch reine Online-Editoren, die nur einen modernen Browser voraussetzen, zumindest rudimentäre WYSIWYG- oder WYSIWYM-Oberflächen bieten und die kollaborative Arbeit inklusive Kommentarfunktionen und Versionskontrolle ermöglichen.
Eine weitere XML-basierte Alternative ist SciFlow zum gemeinsamen Schreiben an größeren Dokumenten, z.B. vielleicht auch Schulbüchern.
Die OER-Bücher aus Südafrika sehen echt klasse aus. Einige Abbildungen hätten besser als Vektorgrafik statt als Rastergrafik eingefügt werden sollen (und erst recht nicht als JPEG-Datei mit störenden Kompressionsartefakten), aber das ist sicher zu verschmerzen. Was für ein Format wurde für das Lektorat als letzte Stufe vor der Umwandlung in PDF genutzt?
Die Zwischenstufe war CNXML (was vielleicht am ähnlichstes zu einem abgespeckten Docbook ist). In der Endstufe wurde aus dem CNXML in einer Latex Pipeline die PDF erstellt.
Falls jemand daran interessiert ist sowas ähnliches auch für sich selber zu benutzen. Ein Konverter der aus dem unstruktrierten Google Docs ein strukturiertes XHTML5 Dokument macht ist hier im folgenden Link Es wird übrigens auch Google Docs mathematische Formeln (soweit es geht) und gMath Formeln (ein Google Docs Plugin) vollständig nach Latex und MathML konvertiert (Tabellen sind auch kein Problem).
https://github.com/oerpub/gdocs_structured_html5_markdown
Alles Open source natürlich
Sehr nützlich, vielen Dank.
Es gibt in der Praxis einen klaren Standard, wenn es um frei verfügbare, offene und zukunftssichere Textdokumente geht: HTML – ohne Probleme in jedem Browser darstellbar, kann alle typographischen und layouttechnischen Anforderungen an Dokumente im Schulbetrieb darstellen. Ja, auch Formeln (sogar mit LaTeX-Support), wobei MathJax (https://www.mathjax.org/) nur ein Beispiel ist. Die Einstiegshürde darf nicht höher sein als ein Browser, es gibt haufenweise Leute *ohne* das Office-Paket aus Redmond. Mittlerweile gibt es eine unübersehbare Anzahl von Editoren und wer sich großartige HTML-Kenntnisse nicht antun will, kann per Markdown schreiben. Ich habe einen Workflow, der aus einem Markdown-Dokument ein fertiges ePub für ein eBook auswirft.