Je offener, desto ungleicher? Der Gender-Gap bei der Veröffentlichung von OER

OER will mehr Offenheit schaffen. Ist damit automatisch mehr Gerechtigkeit, mehr Vielfalt, mehr Repräsentanz verbunden? Nicht unbedingt. Möglicherweise gilt sogar das Gegenteil. Jöran Muuß-Merholz hat nachgezählt, wie es um die Gender-Balance bei OER-Materialien bestellt ist – explorativ, aber mit einem eindeutigen Ergebnis.

Gender-Gab bei OER-Veröffentlichungen - Top 10 - keine Autorin
Gender-Balance bei OER-Veröffentlichungen – Top 10, Grafik: Jöran Muuß-Meerholz, CC0 1.0

Ein Beitrag von Jöran Muuß-Merholz

OER senkt die Hürden – für manche mehr als für andere

Bei OER geht es darum, Hürden zu senken. Wir denken dabei meist an den Zugang und die Nutzung von Materialien. Aber auch die Hürden für die Erstellung und Publikation sind bei OER prinzipiell niedriger. Individuen können selbständig OER machen und teilen, ohne dass sie dafür die Schranken anderer Akteure überwinden müssten (z.B. von Arbeitgeber*innen, Verlagen oder Distributoren). Allerdings scheinen nicht alle Gruppen gleichermaßen von diesen niedrigen Hürden zu profitieren. Meine Arbeitshypothese: Personen aus Gruppen, die ohnehin schon aus privilegierten Positionen agieren, profitieren mehr als andere.

Gender-Balance: 24 zu 1

tl;dr: Bei OER für die Hochschullehre lassen sich unter den 35 Autor:innen mit den meisten veröffentlichten Materialien nur 2 Frauen identifizieren. Die Gender-Balance, ausgezählt anhand der konkreten Materialien, beträgt 96% zu 4%. Auf jedes Material einer Frau kommen 24 Materialien von Männern.

Hier ausführlicher, wie ich diese Zahlen ermittelt habe:

  1. OERsi.org bietet einen Suchindex für Open Educational Resources in der Hochschullehre. OERsi sammelt und organisiert verschiedene Quellen. OERsi veröffentlicht nicht selbst, sondern bildet einen (großen) Ausschnitt der Hochschullandschaft ab. Bei OERsi lässt sich eine Liste der Autor*innen einsehen, wie sie an den jeweiligen Veröffentlichungsorten angegeben wurden. Diese Liste lässt sich nach Anzahl der indexierten Ressourcen pro Autor*in sortieren.
  2. Ich habe nun die Top-Einträge der Liste genommen und daraus, stark vereinfachend, eine Gender-Balance ausgerechnet. (Die Einträge habe ich abgefragt am 18.4.2023, begrenzt auf alle Einträge mit mehr als 100 Ressourcen. Meine Methode der Zuteilung war explorativ und vereinfachend: binär geraten aufgrund von Vornamen, gelesen von Jöran Muuß-Merholz. Ich bitte für diese Vereinfachung um Nachsicht, dass ich möglicherweise einzelne Menschen fälschlich in Schubladen einsortiert habe.)
  3. Die Ergebnisse sind oberflächlich anonymisiert. Denn es geht nicht um die konkreten Personen, sondern das Gesamtbild. Ein roter Balken steht für einen männlich gelesenen Vornamen. Ein blauer Balken steht für einen weiblich gelesen Vornamen.
  4. Grafik 1 zeigt die Top 10 der Liste. Platz 1 ist nicht aussagekräftig, weil hier maschinell alle Ressourcen zusammengezählt werden, für die im Index das Feld „Author“ nicht definiert ist. Die weiteren Einträge zeigen: Es gibt in den Top 10 keinen einzigen blauen Strich. Ich lese es so: Unter den Top-10-Veröffentlichern von OER für die Hochschullehre gibt es keine einzige Frau.
  5. Grafik 2 zeigt die 35 Einträge, die jeweils mit mehr als 100 Ressourcen im OERsi-Index vertreten sind. Drei Einträge lassen sich mit der genutzten Methode nicht auswerten (1, 15, 28). Es gibt zwei Menschen, deren Vornamen ich weiblich gelesen habe. Ich habe nun die Anzahl der Quellen hinter den roten und hinter den blauen Balken zusammengezählt (7488 bzw. 309) und daraus eine prozentuale Verteilung der Materialien errechnet. Das Ergebnis: 96,04% bzw. 3,96% dieser OER-Materialien lassen sich Männern bzw. Frauen zuordnen.

Gender-Balance bei OER-Veröffentlichungen - Top 35: 96,04% männlich, 3,96% weiblich
Gender-Balance bei OER-Veröffentlichungen – Top 35, Grafik: Jöran Muuß-Meerholz, CC0 1.0

Wir müssen reden

Diese rudimentäre, explorative Mini-Empirie wirft Gesprächsbedarf auf:

  1. Offenbar nutzen Männer die Offenheit, mit der OER erstellt und veröffentlicht werden können, im dramatisch höheren Maße als Frauen. Dafür gibt es sicher mehr als eine einzelne Ursache. Darüber müssen wir reden.
  2. Offenbar genügt diese kleine Auszählung an einer Quelle nur minimalen wissenschaftlichen Ansprüchen. Der bisher Anwendungsbereich ist überschaubar. Die Methodik ist rudimentär. Deswegen müssen wir die Faktenlagen besser erkunden.

Dieser Beitrag möchte einen Impuls für weitere Erkundungen und Diskussionen liefern. Kommentare unter dem Blogartikel sind sehr willkommen!

Hintergrund

Die Ergebnisse in diesem Beitrag wurden erstmals präsentiert in: Heads Ups, hier kommt der Mainstream! Wie OER sich in die Breite schleicht und welche falschen Grundannahmen wir dabei beerdigen müssen. Vortrag von Jöran Muuß-Merholz beim University:Future Festival am 26. April 2023 in Berlin & online. Folien: http://joeran.de/20230426/

 

Creative Commons LizenzvertragDieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz, J & K – Jöran und Konsorten, für OERinfo – Informationsstelle OER.

2 Kommentare zu “Je offener, desto ungleicher? Der Gender-Gap bei der Veröffentlichung von OER

  • Gabriele Schobeß :

    Ja, wir müssen reden. Darüber und auch warum es immer noch all-male Panels gibt. Was hindert Frauen daran zu veröffentlichen, warum sehen wir nicht mehr Frauen auf den Bühnen. Ich habe gerade eine Gruppe auf Linkedin eröffnet mit dem Titel „Feministische Lernpolitik“. Wenn wir Lernen nicht inklusiver betrachten, ist das ein Problem.

    Danke für diesen Beitrag und viele Grüße,
    Gabriele

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