Ein Meinungsbeitrag von jOERan Muuß-Merholz
Immer wieder taucht in den Debatten um OER eine Forderung auf: „Es müsste eine zentrale Plattform geben. Einen Ort, zu dem man geht, wenn man OER sucht oder selbst veröffentlichen will.“ Die Forderung ist verständlich, wenn man sich die Unordnung rund um Open Educational Resources vor Augen hält. Es gibt eine unüberschaubare Anzahl von Angeboten. Die Materialien sind von unterschiedlicher Qualität und manchmal von zweifelhaften Absendern. Vieles kennt man nicht und findet es gar nicht oder nur zufällig. Jeder benutzt eigene Systematiken und eigene Begrifflichkeiten. OER ist ein großes Chaos! Wäre es nicht schön, wenn jemand da mal aufräumen würde?
Die Sehnsucht nach Ordnung und Einheitlichkeit ist nachvollziehbar. Doch der Preis für eine zentrale Plattform wäre hoch, wie die folgenden Fragen zeigen sollen:
- Wer dürfte darüber entscheiden, welche Inhalte auf die Plattform kommen und welche außen vor bleiben?
- Wie wird definiert, welcher Grad an Offenheit für das „Open“ in „Open Educational Resources“ erfüllt sein muss und welche Lizenzen und Dateiformate nicht erlaubt sind?
- Wo beginnt und endet das „Educational“ in „Open Educational Resources“? Ist ein Foto von einem Kornfeld schon „educational“?
- Welche Medienformen werden auf der Plattform aufgenommen? Arbeitsblätter und Bücher? Auch Videos und Podcasts? Interaktive Simulationen? Spiele? WhatsApp-Gruppen?
- Brauchen die Materialien eine Altersfreigabe bzw. -sperre?
- OER erlaubt Veränderungen und Überarbeitungen, so dass mittelfristig zu einem Material verschiedene Varianten existieren können. Kommen alle Variationen auf die Plattform?
- Ist die Plattform offen für Materialien, die Schülerinnen erstellt haben, beispielsweise Erklärvideos?
- Ist die Plattform offen für Materialien, die Unternehmen oder Interessensvertretungen erstellt haben, beispielsweise das Handelsblatt oder e.on oder Greenpeace oder die GEW?
- Prüft jemand, ob das Material urheberrechtlich sauber ist, bevor es veröffentlicht ist? Was passiert bei Zweifelsfällen?
- Können sich 16 Bundesländer auf eine gemeinsame Systematik für Fächer, Inhalte und Schultypen einigen? Bleibt ein Mathematerial aus Österreich außen vor?
- Wie lange braucht der Prüfungsprozess? Kann er tagesaktuellen Materialien – einer der möglichen Stärken von OER – gerecht werden?
Übernahme / Reuse
Dieser Artikel ist eine Übernahme aus dem Buch „Freie Unterrichtsmaterialien finden, rechtssicher einsetzen, selbst machen und teilen“ von Jöran Muuß-Merholz/Beltz in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim Basel, S. 96f. Das Buch und damit dieser Artikel stehen unter der Lizenz CC BY SA 4.0.
Eine zentrale Plattform für OER wäre gleichbedeutend mit einer zentralen Prüfstelle für Lehr-Lern-Materialien. Sie würde die Dynamik und die Vielfalt ersticken, die mit dem Internet und mit offenen Lehr-Lern-Materialien verbunden sind. Die digitale Welt funktioniert über Vielfalt und Geschwindigkeit, Versuch und Irrtum. Eine zentrale Plattform kann dem nicht gerecht werden.
Es gibt heute und in Zukunft sicher noch mehr Versuche, Ordnung in die Welt digitaler Materialien zu bringen. Das ist nicht schlimm, sondern vielleicht sogar hilfreich – solange die Vielfalt dadurch nicht eingeschränkt wird. Viele Plattformen von verschiedenen Anbietern und mit unterschiedlichen Schwerpunkten beleben die Landschaft und bieten Orientierung. Aber man sollte immer dann skeptisch werden, wenn jemand die Rundum-Glücklich-Lösung verspricht oder einfordert. OER muss so bleiben wie das Web – bunt, dynamisch, chaotisch.
Übrigens: Wenn wir aus der bisherigen Geschichte des Netzes eine Sache gelernt haben, dann diese: Nutzer*innen finden die Idee zentraler Verzeichnisse prinzipiell gut. Aber sie nutzen sie nicht. Wenn sie etwas suchen, dann schauen sie nicht in Verzeichnissen nach, sondern in Suchmaschinen.
Hintergrund: Repository und Referatory
In OER-Fachdebatten stößt man in dieser Diskussion auf die Begriffe „Repository“ und „Referatory“. Ein Repository ist quasi ein Depot, ein Silo, in dem Inhalte gespeichert und zugänglich gemacht werden. In einem Referatory dagegen sind nicht die Inhalte selbst, sondern nur Verweise („Referenzen“) gespeichert. Es handelt sich hier quasi um ein Telefonbuch oder einen Wegweiser zu den Materialien. Viele Angebote der Bildungsserver funktionieren nach der Logik eines Repositorys.
2 Kommentare zu “Wider die Ordnungsphantasien! Argumente gegen ein zentrales Verzeichnis für OER”
Ich habe da einen Fehler im Text, im allerletzten Wort. (Der Fehler ist schon im Buch, aus dem der Text übernommen wurde.)
Es muss nicht heißen:
„Viele Angebote der Bildungsserver funktionieren nach der Logik eines Repositorys.“
Richtig ist:
„Viele Angebote der Bildungsserver funktionieren nach der Logik eines Referatorys“.
Ein guter Beitrag, Jöran, herzlichen Dank.
Ich denke auch, dass die Zukunft eher in sehr qualifizierten und qualifizierenden Plattformen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten liegen wird. Und diese Zukunft würde mir gefallen, weil dadurch noch ein weiterer sehr sympatischer Aspekt von OER stärker werden könnte: der Aspekt der Collaboration. Wo treffen sich die OER-Macher eines bestimmten Schwerpunktes (zum Beispiel beruflicher Weiterbildung) um nicht nur OER-Material zu suchen oder zu veröffentlichen, sondern auch gemeinsam an OER-Material zu arbeiten.
Herzliche Grüße aus Ostheim/Rhön