Open Educational Resources (OER, Offene Bildungsmaterialien) können einen Beitrag zu einer verstärkt offenen und partizipativen Bildung in einer digital geprägten Welt leisten. Dies ist jedoch kein Automatismus. Notwendig ist auch eine grundsätzlich offene Haltung und Praxis der Lehrenden. Der Begriff Open Pedagogy kann dafür Orientierung bieten und wird hier anhand konkreter Praxisbeispiele dargestellt.
Ein Beitrag von Ronny Röwert
Pädagogik, öffne Dich
Wie in vielen anderen Kontexten sind auch die Begriffsverständnisse des Adjektivs open im Zusammenhang mit Bildung und Pädagogik sehr unterschiedlich. Allen Verwendungen des Begriffs im Bildungskontext ist nach KERRES (2019) gemein, dass Offenheit als Gegenbegriff zu Geschlossenheit verwendet wird. Damit ist implizit eine neue und andere Bildungspraxis gemeint. Welche neue Pädagogik wird also gefordert, wenn von Open Pedagogy gesprochen wird? Was hat das mit OER zu tun? Und vor allem: was bedeutet das für meinen pädagogischen Alltag?
Zentral für das Verständnis von Open Pedagogy ist der Erklärungsansatz von HEGARTY (2015). Die neuseeländische Pädagogin schlägt dort acht sogenannte Attribute vor, die Lehrenden Orientierung dabei bieten sollen, ihre Haltung hin zu einer offenen und partizipativen Pädagogik zu entwickeln.
Offene Pädagogik gern, aber wie?
Nachfolgend werden die, ins Deutsche übersetzten und adaptierten, acht Attribute nach Hegarty jeweils anhand eines konkreten Praxisbeispiels aus schulischen und hochschulischen Kontexten vorgestellt:
- Partizipativer Technologieeinsatz: Neue internetbasierte Technologien wie Soziale Netzwerke, Blogs und Streaming-Plattformen bieten die Möglichkeit, dass Lernende sich untereinander für wirksame Lernprozesse leichter vernetzen können. Ebenso können Lernende leichter mit der Welt außerhalb des Klassen- oder Seminarraums interagieren und Lernergebnisse teilen.
Praxisbeispiel: Im Rahmen der EDIT Educational Video Challenge produzieren Studierende an Hochschulen in elf Ländern, inspiriert durch konkrete gemeinsame Begriffe, zeitgleich kreative Videos. - Innovative und kreative Lernumgebungen: Wenn Lernende zu Mitgestalter*innen ihrer eigenen Lernprozesse werden sollen, sind ihnen dafür neue und kreative Umgebungen zu bieten. Lehrende können die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.
Praxisbeispiel: Makerspaces und FabLabs sind im Sinne von offenen Werkstätten neue Orte für selbstgesteuertes Lernen, die zunehmend für die schulische und hochschulische Bildung genutzt werden. Edu ; labs zeigt konkrete Beispiele dafür auf. - Teilen von Ideen & Ressourcen: Im Sinne einer neuen pädagogischen Kultur des Teilens können Lehrkräfte immer leichter ihre konkreten Lehr-Lernressourcen, jedoch auch weitere Impulse zu ihrer Arbeit offenlegen. Dies kann über Plattformen für OER oder soziale Netzwerke wie Twitter erfolgen.
Praxisbeispiel: Die Plattform digital.learning.lab ermöglicht es Lehrkräften, konkrete digitale Unterrichtsbausteine sowie Hinweise zu Tools offen zu teilen. - Reflexive pädagogische Praxis: Die stetig begleitende Reflexion des eigenen Handelns gehört seit jeher zu den Anforderungen einer professionellen pädagogischen Praxis von Lehrenden. Eine reflexive Praxis ist keine zwingend neue Eigenschaft, jedoch auf dem Weg zu einer offenen pädagogischen Haltung dennoch zu betonen.
Praxisbeispiel: Reflexion kann nur schwer im luftleeren Raum stattfinden, sondern muss in Beziehung zu etwas gesetzt werden. Eine Möglichkeit der Reflexion bieten empirische Ergebnisse der Bildungsforschung. Aktuelle Studien werden im Clearing House Unterricht zusammengefasst. - Menschen, Offenheit, Vertrauen: Eine lernendenzentrierte Haltung fördert ganz grundsätzlich eine offene, vertraute und angstfreie Lernumgebung. Sie kann ebenso wie eine reflexive pädagogische Praxis als Fundament für eine offene Pädagogik verstanden werden.
Praxisbeispiel: An der Bauhaus-Universität Weimar erhalten Studierende im Rahmen des interdisziplinären Lehr-/Lernformats Bauhaus.Module die Möglichkeit, als studentische Lehrende aktiv zu werden und eigene Veranstaltungen anzubieten. Dieser Perspektivwechsel kann gegenseitige Empathie und Vertrauen zwischen Lehrenden und Lernenden stärken. - Pädagogische Gemeinschaft: Im pädagogischen Alltag fühlen sich viele Lehrende wie Einzelkämpfer*innen. Eine neue Kultur der Offenheit und Partizipation für die Lernenden lässt sich jedoch von Seiten der Lehrenden nur etablieren, wenn Letztere auch selbst Teil einer verbindlichen und vertrauten fachlichen Gemeinschaft sind, einer sogenannten Community of Practice.
Praxisbeispiel: Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich eine Gruppe von 16 Hochschullehrenden und -didaktiker*innen von unterschiedlichen Hochschulen aus ganz Deutschland im Rahmen des Projektes AEDiL zusammengefunden, um die eigenen Erfahrungen während der Umstellung auf digitales Lehren und Arbeiten zu reflektieren und zu beforschen. - Ko-Kreation: Die Erstellung von OER wird häufig aus Perspektive der Lehrenden gedacht, die eigene Lehrmaterialien frei zur Verfügung stellen. Werden schulische oder akademische Bildungsprozesse jedoch verstärkt als ko-kreativ verstanden, lassen sich auch Lernende stärker bei der Erstellung von Lern-Lernressourcen in die Verantwortung nehmen.
Praxisbeispiel: Im Rahmen des Projektes Sustainable Futures haben Studierende unter Anleitung von Lehrenden in transdisziplinären Settings eigene Medienprodukte erstellt und veröffentlicht. - Kolleg*innen-Feedback: Der Beruf als Lehrkraft ist seit jeher durch eine große individuelle Handlungsautonomie zur Erfüllung der pädagogischen Aufgaben charakterisiert. Umso wichtiger sind regelmäßige Feedbackschleifen mit nahestehenden Kolleg*innen, die sich vor allem auf eine verstärkte Etablierung einer offenen Lernkultur beziehen.
Praxisbeispiel: Kollegiales Feedback ist dann besonders wirksam, wenn man es gut strukturiert und aufbereitet. Die Wirtschaftsuniversität Wien hat dafür gute Ressourcen wie Vorlagen verlinkt.
Offene Pädagogik als realistisches Zielbild?
Nach Präsentation ihres Modells für Open Pedagogy wirft Hegarty zum Ende selbst die Frage auf, inwiefern es sich dabei um einen realistischen Begriff für Lehrende handelt.
Das Auffächern dieses großen Anspruchs in unterschiedliche Attribute signalisiert Lehrenden, dass Geschlossenheit und Offenheit keine zwei Enden einer Skala sind. Darüber hinaus sind die Attribute in ihren einzelnen Facetten auch nicht losgelöst von bisherigen Zielbildern für pädagogisches Handeln zu verstehen. Sie können vor allem als Orientierung für die berufliche Professionalisierung dienen.
Da sich den einzelnen Attributen konkrete Beispiele pädagogischer Praxis zuordnen lassen, scheint der Anspruch einer offenen Pädagogik bzw. Open Pedagogy zwar ein hochgestecktes Ziel, jedoch realistisch zu erreichen. Schlussendlich muss sich dieser Anspruch jedoch in der Praxis bewähren.
Literatur
DEIMANN, M. (2018). Open Education: Auf dem Weg zu einer offenen Hochschulbildung. transcript. https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4496-8/open-education/
HEGARTY, B. (2015). Attributes of Open Pedagogy: A Model for Using Open Educational Resources. Educational Technology, July– August 2015, 3–13. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/ca/Ed_Tech_Hegarty_2015_article_attributes_of_open_pedagogy.pdf
KERRES, M. (2019). Offene Bildungsressourcen und Open Education: Openness als Bewegung oder als Gefüge von Initiativen?. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 34, 1–18. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.02.17.
KORTEGAST, V., & WATOLLA, A.-K. (2020). Openness im Handeln von Lehrenden: Eine Skizze für den Gesamtkomplex offener Lerneinheiten. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Occasional Papers. 190–207. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2020.11.06.
Weitere Beiträge aus dieser Reihe
- OER-Policy: Richtlinien für mehr Offenheit
- Offenheit im Bildungsbereich: Warum es für OER auch Open Educational Practices braucht?!
- Offenheit im Bildungsbereich: Warum es für OER auch Open Source braucht?!
- Open (Text)book: Lesen und lesen lassen
- Open Music: Musik auf die Ohren
- Open Photo: Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte
- Offenheit im Bildungsbereich: Warum es für OER auch Open Content braucht?!
2 Kommentare zu “Offenheit im Bildungsbereich: Keine OER ohne Open Pedagogy?”