Was das Thema Open Educational Resources mit guter Schule zu tun hat

Übernahme / Reuse
Colab7-Abschlussbericht-CoverDieser Text ist eine Übernahme des Textes Was das Thema Open Educational Resources mit guter Schule zu tun hat von Jöran Muuß-Merholz. Der erschien erstmal 2013 in:Luise Ludwig, Kristin Narr, Sabine Frank, Daniel Staemmler (Hrsg.): „Lernen in der digitalen Gesellschaft – offen, vernetzt, integrativ“, Internet & Gesellschaft Collaboratory, 2013, S.118-121. PDF. Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland (CC BY 3.0 de).

Es geht nicht (nur) um Urheberrecht, Finanzen oder Weltrevolution

Die Debatte um OER für Schulen ist in Deutschland im internationalen Vergleich noch vergleichsweise überschaubar und leise, aber sie weitet sich aus. In den bisherigen Diskussionen stehen meist rechtliche, finanzielle oder ideologische Argumente im Mittelpunkt. Im Interesse von guter Schule müssen die noch unterbelichteten Fragen des Lernens, des Unterrichts und der Schulentwicklung in den Vordergrund gerückt werden.

Im Folgenden werden Idealbilder von guter Schule und die Auswirkungen von (nicht) offenen Materialien auf diese Bereiche skizziert. Die Idealbilder beziehen sich auf: 1. Schüler, die lernen; 2. Lehrer, die unterrichten; 3. Schulen, die Teamarbeit etablieren wollen. Sie sind nicht neu, sondern werden im Gegenteil seit Jahren und Jahrzehnten von Praktikern und Lernwissenschaftlern, von Bildungspolitikern oder Stiftungen immer wieder beschrieben.

Stellen wir uns also eine ganz normale Schule vor, mit vielen Schülern, wenig Lehrern, einigen Schulbüchern und sehr vielen Arbeitsblättern. (Von digitalen Geräten für jeden Schüler sei hier noch nicht einmal die Rede. Wir sprechen vom heutigen Alltag in Schulen.) Die Menschen hier möchten gute Schule machen – wie wird das von der Frage beeinflusst, wie offen ihre Materialien sind?

Lernen und OER

Das Idealbild: Lernen ist ein individueller Prozess, in dem die Lernenden Wissen mittels Konstruktion und Aneignung entwickeln. Dieser Prozess vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung mit einem Inhalt. Dafür müssen die Materialien, mit denen gelernt wird, größtmögliche Freiheit für dieses individuelle Sichaneignen bieten. Sie müssen vielfältig und aktiv bearbeitet werden können. Lernende müssen Materialien (im Wortsinne) manipulieren, also Inhalte bearbeiten, verändern, neu anordnen, mit anderen Inhalten kombinieren („remixen“) können. Digitale Inhalte und digitale Werkzeuge bieten dafür enorme Möglichkeiten.

Was sind Open Educational Resources (OER)?

Das Urheberrecht und daran gebundene Regelungen setzen auch für Pädagogen[1] enge Grenzen, was das Digitalisieren, Bearbeiten, Kombinieren, Kopieren oder gar Wiederveröffentlichen von Materialien angeht. Open Educational Resources (OER) stellen eine offene Alternative dar. OER werden unter freien Lizenzen veröffentlicht, die prinzipiell niedrige Hürden für Bearbeitung und Weitergabe setzen. Solche Materialien werden z.B. von engagierten Praktikern erstellt und über das Internet verbreitet. Aber auch staatliche Finanzierungen sind denkbar und in Ländern wie den USA, Norwegen oder Polen schon Praxis. („Offen“ oder „frei“ ist hier nicht zu verwechseln mit „kostenlos“. Es geht bei OER nicht zwingend um kostenlose Inhalte, sondern vor allem um die Offenheit zur Bearbeitung und die Freiheit zur Weitergabe. Ein bekanntes Beispiel für freie Inhalte ist die Wikipedia.)

Das Gegenbild von lernförderlichen Materialien stellen „unveränderliche“ Materialien dar, die gar nicht oder nur in einem vom Verfasser vorgegebenen Rahmen be-arbeitet werden können. Die Hürden dafür sind struktureller (z.B. Nicht-reinschreiben-Bücher), technischer (z.B. PDF-Format, Apps oder Kopierschutz) oder (urheber-)rechtlicher Natur (z.B. als Verbot von Digitalisaten).

Hinzu kommt, dass der moderne Lernbegriff davon ausgeht, dass Lernen sich als Prozess von Zusammenarbeit und Austausch zwischen einem Individuum und anderen Lernenden und der Umwelt vollzieht. Das gilt sowohl für den Aneignungsprozess als auch für die Erstellung und Verbreitung von Ergebnissen, z.B. beim produkt-/projektorientierten Lernen. Auch hier liegt es auf der Hand: Digitale Inhalte und Werkzeuge bereichern die Möglichkeiten für das Teilen – solange sie nicht von technischen oder urheberrechtlichen Vorgaben eingeschränkt werden.
OER bedeuten für das Lernen also eine Rücknahme der (künstlichen) Schranken für die Bearbeitbarkeit und (Mit-)Teilbarkeit von Materialien.

Unterrichten und OER

Moderner Unterricht stellt individualisiertes Lernen in den Mittelpunkt. Eine entsprechende Binnendifferenzierung des Unterrichts geht einher mit einer Verschiebung der Lernmedien: Der Lehrende als „Träger“ von Wissen rückt in den Hintergrund, während andere Lernmaterialien wichtiger werden. Vor diesem Hintergrund ist modernes Unterrichten wesentlich von der Vorbereitung von Lernmaterialien geprägt, die Lernenden unterschiedliche Zugänge erlauben, unterschiedliche Stile, Niveaus, Geschwindigkeiten und Rahmenbedingungen berücksichtigen. Lehrende sind deshalb (schon seit prädigitaler Zeit) Meister des „Remixens“: Mit den Werkzeugen Schere, Klebestift und Kopierer stellen sie Materialien immer wieder neu zusammen.

Auch hier ist offensichtlich: Mit digitalen Werkzeugen geht das „Remixen“ noch besser, zumal wenn die Materialien in digitaler Form vorliegen. Während über rechtliche Grauzonen und Pauschalvergütungen für den analogen Bereich ein gewisser Spielraum etabliert ist, wurde die Situation für den digitalen Bereich denkbar restriktiv geregelt: Der Gesamtvertrag zur Einräumung und Vergütung von Ansprüchen nach § 53 UrhG verbot bis Ende 2012 noch jegliche Digitalisierung von Unterrichtsmaterialien.[2] Auch die von den Schulbuchverlagen eingeführten „digitalen Schulbücher“ bieten nur höchst beschränkte Möglichkeiten, Inhalte nach eigenen Interessen zu bearbeiten und weiterzuverwenden.
Nur OER bieten die aus didaktischer Sicht wünschenswerte freie Kombinierbarkeit und Vervielfältigung von Materialien.

Zusammenarbeiten und OER

Zugegeben: Es gibt Berufe, in denen die Teamarbeit schon weiter entwickelt ist als unter Lehrenden. Aber der Trend ist klar: Zusammenarbeit in Lehrerteams und darüber hinaus stellt heute ein wichtiges Element von Schulentwicklung und Qualitätsmerkmal von guter Schule dar.

In vielen Schulen existiert bereits Teamarbeit. Ein zentraler Bestandteil ist die arbeitsteilige Entwicklung von Materialien, die für den oben beschriebenen Unterricht notwendig sind. Die Arbeit wird dabei im doppelten Sinne geteilt: Nicht jedes Teammitglied muss alles machen, aber alle können auf das gemeinsam erarbeitete Material zugreifen. Auch hier eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten. USB-Sticks und z.B. via Dropbox gemeinsam genutzte Dateien bringen viele Vorteile – die wiederum von technischen und urheberrechtlichen Schranken begrenzt werden, wenn, wie oben beschrieben, eine Digitalisierung von traditionellen Unterrichtsmaterialien nur eingeschränkt und eine Weitergabe in Lehrerteams gar nicht erlaubt ist.

Zu den juristischen Hürden gesellt sich eine große Verunsicherung in deutschen Schulen: Der sogenannte „Schultrojaner“, die vom Verband Bildungsmedien verteilte Broschüre „Was geht, was geht nicht?“ und urheberrechtliche Selbstverpflichtungen, die Schulleitungen oder ganze Kollegien unterschreiben sollen, haben den offenen Austausch von Materialien in Schulen nicht gerade gefördert.
Dabei wäre die umgekehrte Entwicklung wünschenswert: Ein Austausch auch im größeren Umfang im Kollegium oder gar darüber hinaus, z.B. in fachspezifischen Communities, wird in der digitalen Welt eigentlich einfacher – und in der existierenden Praxis schwieriger.

Fazit

Digitale Materialien, Werkzeuge und Plattformen sind ein Glücksfall für die Schule. Sie bieten auf der Ebene des Lernens, des Unterrichts und der Zusammenarbeit Möglichkeiten, die grundlegend mit den von Politik und Praxis, Wissenschaft und Wirtschaft formulierten Anforderungen an gute Schule übereinstimmen. Technische und urheberrechtliche Hürden schränken die Chancen aber so weit ein, dass das „digitale Potenzial“ nicht ansatzweise zur Geltung kommt. Teilweise eröffnen sich mit digitalen Materialien weniger Perspektiven als mit ihren analogen Pendants. Lernmaterialien, die frei verbreitet und bearbeitet werden können (OER – Open Educational Resources) können dieses Potenzial freisetzen, indem sie technische und rechtliche Hürden ausräumen.
Der heutige Schulalltag kann mit OER entscheidend verbessert werden – jenseits von Fragen über Einsparpotenziale oder Weltrevolutionen in der Bildung.

Fußnoten

  • [1] Selbstverständlich sind stets alle Menschen jenseits von Geschlechterfragen gemeint.
  • [2]Zum 01.01.2013 ist eine Lockerung vereinbart worden, die z.B. auf http://lehrerfortbildung-bw.de/sueb/recht/urh/kop_2013/ dokumentiert ist. Nun ist u.a. eine Digitalisierung von Teilen von Werken zum Unterrichtsgebrauch möglich – aber nur bei einem Erscheinungsjahr nach 2005. Digitalisierte Inhalte dürfen an die Schüler per USB-Stick oder CD weitergegeben werden, aber nicht auf einer Lernplattform wie Moodle.
Creative Commons LizenzvertragText steht unter der CC BY DE 3.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz. Bitte beachten Sie auch die Angaben zur Übernahme des Textes am Anfang des Artikels.

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